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April 1855
deley nachjagende in europa an die friedenspartey und wimmert kläglich:
friede um jeden Preis. die Wenigsten haben die kraft einzusehen, daß es
sich nicht mehr um den orient, sondern um die vernichtung der russischen
Präponderanz in europa handelt, welche, wenn sie jetzt nicht erreicht wird,
um so furchtbarer heranwachsen wird und muß. Wir aber werden dabey
am schlimmsten fahren, einen alten Bundesgenossen verloren und keine
neuen gewonnen haben.
vor ein paar tagen erhielt ich von lord lansdowne durch mrs. norton
einige sehr schmeichelhafte Zeilen sammt einer einladung, nach england
zu kommen. vedremo, je nach dem, was hier geschieht. dort scheint man
wenig hoffnung auf den frieden zu haben.
gestern hatte ich eine lange conversation mit Bruck, der mann scheint
ziemlich entmuthigt, wenn er sich aber aufrafft, hat er weitgehende Pläne,
reorganisirung der verwaltung, selbstregierung, volksvertretung etc. ge-
lingt ihm dieses Alles ohne eine revolution, so will ich ihn preisen. ich
sagte ihm, er müsse Premier zu werden suchen und für uns das, was stein
für Preußen gewesen. c’est toujours bon à dire. es ist übrigens außer Zwei-
fel, daß alle umstände für ihn arbeiten sowie fast alle Personen gegen ihn,
wir werden sehen, wer den sieg davon trägt.
ich erinnere mich nicht, daß mich die neigung zu einer frau jemals so-
sehr in Anspruch genommen hätte, als es dießmal mit meiner magnifiquen
gabrielle [neuwall] der fall ist. ist es die macht der letzten liebe, da es
eine erste bey mir kaum gegeben hat? das wäre eine traurige Beobachtung,
gewiß aber ist, daß mich dieser eine gedanke fortwährend, fast ausschließ-
lich beschäftigt, und daß ich sie mehr liebe, als ich mich dessen noch für
fähig gehalten hätte. da gibt es denn auch mitunter unangenehme, recht
sehr unangenehme stunden, es ist doch ein eigenthümliches vergnügen,
welches man daran findet, den Gegenstand, den man liebt, und durch ihn
dann doch wieder sich selbst zu quälen. nebenbey gehe ich des Abends oft
zu der armen m[arie] m[eixner], welche seit ihrer scheidung wieder bey ih-
ren Ältern lebt, kränkelt und, wie ich sehr fürchte, nicht mehr lange leben
wird. die Arme liebt nur mich auf der Welt, obwohl sie es recht gut weiß,
daß ich seit den 2 1/2 Jahren, daß wir uns kennen, nie mehr für sie emp-
funden habe als warme freundschaft und mitleid. man kann einmal über
gewisse Abstände in der erziehung und Bildung nicht hinaus.
[Wien] 18. April
ich war ein paar tage in Pesth, aus verschiedenen ursachen, erstlich wollte
ich gabrielle wieder einmahl sehen und mich mit eigenen Augen über den
Zustand ihrer gesundheit überzeugen, da ich seit einiger Zeit über dieselbe
beunruhigende nachrichten hatte, sie litt und leidet noch, obwohl nun schon
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien