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Mai 1855
schnittes von 1830–1848 war, und von der auch ich, wenn auch vielleicht in
geringerm maaße als viele Andere, nicht frey blieb, gründlich abgeschüttelt
habe und saftiger, markiger, eckiger geworden bin. mein österreichisches
gefühl, meine ideen in dieser richtung sind praktischer geworden, meine
überzeugung fester. in dieser stimmung aber gibt es bey mir 2 dunkle
schatten, welche mancher mißtöne nennen wird, die aber ebensogut provi-
dentielle fügung seyn können, meine Abneigung gegen den catholicismus
und meinen haß gegen ein paar individuen der Allerhöchsten sphaere. ob
mich diese gefühle (die mir jetzt schon ganz entschieden über den kopf
gewachsen sind) in der erfüllung meiner Aufgabe hinderlich seyn werden?
oder das gegentheil, das wird sich am ende aller (i.e. meiner) tage zeigen.
[Wien] 25. mai
nach einem strömenden regen, der volle 48 stunden anhielt, haben wir
endlich seit 3–4 tagen schönes warmes Wetter. ich habe endlich meine
morgenpromenaden beginnen können, habe einmahl mit gabriele neuwall
im Prater gefrühstückt, sonst im Paradiesgarten etc. heute ziehe ich, nach
8 monathen, aus dem hôtel Wandl aus und habe eine meublirte Wohnung
im landhause1 genommen.
vor ein paar tagen begegnete mir Bruck im Prater und sagte mir, er
habe mit mir zu sprechen, ich möchte tags darauf zu ihm kommen, was
ich auch that. da sagte er mir dann, die direction der französischen eisen-
bahngesellschaft habe ihn ersucht, ihr Jemanden als director und Admini-
strator ihrer forsten, Besitzungen, Werke aller Art und eisenbahnen im
Banate nahmhaft zu machen, und da wolle er mich fragen, ob mir dieses
genehm wäre?2 ich erwiederte, wenn man dazu keine technischen kennt-
nisse verlange (was er verneinte, indem ich dazu einen unterbeamten ha-
ben würde), und sich die stellung und Bedingungen sonst als annehmbar
herausstellen sollten, so hätte ich keinen Anstand, in eine weitere Bespre-
chung einzugehen. ich erwarte nun die weiteren eröffnungen, pecuniär
dürfte es eine ganz gute, vielleicht sogar brillante stellung seyn, woran
mir aber weniger gelegen ist. die hauptsache wäre mir, sitz und stimme
in der Direction und dadurch einen Einfluß auf das Ganze der Unterneh-
1 das niederösterreichische landhaus in der herrengasse. in derselben gasse (im ehemali-
gen Palais liechtenstein) hatte Andrian von november 1845 bis oktober 1853 eine Woh-
nung gemietet.
2 die von französischen investoren unter federführung des Pariser crédit mobilier gebildete
„k.k. privilegierte österreichische staatseisenbahn-gesellschaft“ hatte mit einem vertrag
v. 1.1.1855 die böhmischen und ungarischen Bahnlinien des staates samt der riesigen Be-
sitzungen im Banat (kupfer-, eisen- und steinkohlebergwerke, eisen- und kupferwerke
sowie über 120.000 hektar land- und forstwirtschaftlichen Besitz) für 90 Jahre gepachtet.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien