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1813.
Juni 1855
er sowie überhaupt Jedermann, der aus den Provinzen kömmt, erzählt
schauderhafte dinge von der zunehmenden desorganisation der verwaltung
auf dem lande, von der noth und der demoralisation der Beamten, welche
ihre ohnehin elenden gehalte nun auch schon sehr unregelmäßig zu bekom-
men anfangen, von der zunehmenden gereizten stimmung in allen klassen
der Bevölkerung und der herrschenden noth, der realcredit für den großen
wie den kleinen grundbesitz ist null, Waisencassen, sparkassen und Alles,
wo nur noch ein Pfennig vorhanden war, hat die regierung mittelst des na-
tionalanlehens und auf sonstigen Wegen an sich gezogen, kurz sie Alle, und
die Beamten, hohe und niedere voran, sprechen die überzeugung aus, daß
die verwaltungsmaschine von selber stillstehen wird.
Bach aber wird wieder nach irgend einem kümmerlichen expedient grei-
fen, um die sache scheinbar zu flicken, auf ein paar Jahre zu fristen und Al-
les noch gründlicher zu verderben. Wieder eine der consequenzen des Abso-
lutismus, und zwar des Absolutismus in der hand eines stupiden rotzbuben.1
Bruck habe ich in diesen tagen ein paarmahle gesehen. die frage wegen
Persien taucht wieder auf, indem ein persischer Bevollmächtigter in diesen
tagen den entwurf eines handelsvertrages und das förmliche ersuchen um
Absendung einer mission zur Begrüßung des schahs ausgesprochen hat.
heeckeren, der vater (wie er sich nennt) des französischen eisenbahnvertra-
ges, hatte gestern eine lange conversation mit mir in betreff meiner über-
nahme der neulich mit Bruck besprochenen stellung. ich habe als conditio
sine qua non gesetzt, daß ich mitglied des Administrationsrathes würde. so
kreuzen sich die verschiedensten dinge, suez nicht zu vergessen.2
fischer, der exstatthalter von oberoesterreich, hat mir abermals seine um-
gearbeiteten mémoiren zur durchsicht und Beurtheilung gebracht, ein lang-
weiliges und von ziemlich beschränktem standpunkte ausgehendes opus.3
die Alliirten haben die offensive ergriffen und bedeutende vortheile in
der crim errungen, von frieden ist jetzt keine rede, und die conferenzen
sollen in diesen tagen officiell geschlossen werden. À la bonne heure. Wir,
die wir die großartige Politik befolgen, immer auf der seite des stärkeren zu
seyn, sind natürlich für den Augenblick wieder mehr westmächtlich, doch
scheint zu einer activen theilnahme am kriege vor der hand keine Aus-
sicht und am allerwenigsten lust bey seiner majestät (der ritterliche kai-
1 gemeint ist kaiser franz Joseph.
2 Zu den vorschlägen von finanzminister frh. karl ludwig v. Bruck, Andrian solle in einer
diplomatischen mission nach teheran gehen, in die dienste der staatseisenbahn-gesell-
schaft eintreten oder eine funktion in der suezkanal-gesellschaft übernehmen, vgl. ein-
träge v. 12., 18. und 25.5. sowie 14.6.1855.
3 Alois Fischer, Aus meinem Amtsleben (Augsburg 1860, 2. Aufl. Innsbruck 1860). Vgl. auch
eintrag v. 20.8.1853.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien