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19525.
Juli 1855
[Bad kissingen] 25. July
nessun maggior dolore, che ricordarsi dei tempi felici nella miseria,1 so geht
es mir jetzt, wie der letzte der epigonen steige ich herum und warte, bis ich
auch erlöst bin.
sonntag hatten wir noch ein recht hübsches Abschiedsdiner im russischen
hofe, welches ich arrangirt hatte, und wo die herzoginn caroline [meck-
lenburg-strelitz], ihre 2 damen, gräfin Pourtales und hohenthal, frau v.
friesen und gabrielle waren, von allen ist nun niemand mehr hier als grä-
fin Pourtales, die hohenthals reisten montag ab, gestern zu meinem gro-
ßen kummer die mecklenburgischen hoheiten und heute früh gabrielle. ich
habe nun in diesem Augenblicke keine andern Bekannten in kissingen als
gräfin Pourtales, welche zwar eine charmante frau, aber denn doch zu jung
und bruyante ist, um für mich eine große ressource zu seyn, dann die lang-
weiligen essigsauren Auerspergs und seit gestern eine ältliche gräfinn herz-
berg aus Berlin, dazu einige ziemlich unbedeutende herren, huniady, A.
schwarzenberg, der italiener malzahn, ein herr v. oertzen, ein graf tacza-
nowski aus Posen, mitglied der preußischen 2. kammer, Bohuslav radziwill
etc.
Wir haben beynahe fortwährend schlechtes Wetter, am 31. hoffe ich abzu-
reisen, und zwar wahrscheinlich über coburg, leipzig etc. nach hause. die
Angelegenheit wegen der Westbahn scheint wenigstens mit gabrielli vor der
hand abgebrochen, die englischen capitalisten weigern sich entschieden,
auf irgend ein unternehmen mit oesterreich einzugehen, dessen Politik in
der orientalischen frage ihnen kein vertrauen in die Zukunft einflößt. Auch
die unterhandlungen mit rothschild & c. wegen übernahme der italieni-
schen Bahnen sollen abgebrochen seyn. gabrielli möchte nun, wahrschein-
lich um am Brett zu bleiben, die kleine Bahn von mailand nach Buffalora
erhalten.
Andererseits dürfte vielleicht, wie mir Blittersdorf schreibt, in frankfurt
sich für die Westbahn ein liebhaber finden, das Alles habe ich dann Bruck
mitgetheilt und bin neugierig, was er antworten wird, c’est lui qui l’a voulu,
tout pis pour lui, ich kann und will in england nicht als vermittler und
rechtfertiger unserer elenden Politik auftreten, und empfindet man bey uns
ihre früchte recht unangenehm, so ist mirs um so lieber.
daß man bey uns, ebensowenig als in deutschland und in Preußen, für die
Alliirten keinen besondern enthusiasmus hat, begreife ich bey ihren gerin-
gen erfolgen und der halbheit ihrer bisherigen verfahrungsweise vollkom-
men, aber das eigene interesse sollte man doch zu rathe ziehen.
1 dante, la divina commedia, inferno, canto v. der zweite halbsatz heißt dort „che ricor-
darsi del tempo felice nella miseria.“
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien