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19729.
Juli 1855
Zeit in ischel oder münchen todtschlage, vielleicht meint er, ich solle selbst
nach england gehen, und kann ich es mit ehren und Aussicht auf erfolg
thun, so bin ich mit vergnügen dazu bereit.
Banquier meyer, ein grundgescheidter mann, ist von Wien hier,1 er sagt
mir, daß Bruck noch immer von der unmöglichkeit spricht, eine große fi-
nanzoperation zu unternehmen, solange er nicht wisse, ob krieg oder frie-
den? so weit waren wir aber auch schon vor der reduction,2 es scheint also,
daß in politicis noch immer die alte ungewißheit herrscht. sein erstes Au-
genmerk scheint übrigens auf herstellung der valuta gerichtet, und als er-
stes mittel dazu will er die Zahl der circulirenden Banknoten reduciren, den
Anfang hat er bey der Bank schon gemacht. das kann große calamitäten ge-
ben, denn ich glaube nicht, daß 400 millionen Papiercirculation als einziges
medium für uns zu viel seyen, er aber und mayer glauben es. Jedenfalls aber
müßte gleichzeitig für creditinstitute gesorgt werden.
Änderung unseres elenden Besteuerungssystems hauptsächlich durch er-
höhung der indirecten Besteuerung wäre die hauptsache, daher z.B. Auflas-
sung des tabakmonopols, zugleich aber verminderung der Ausgaben durch
Änderung des verwaltungssystems und einschränkung und bessere reguli-
rung des militäretats, in dem es heillos zugeht.
ich sprach diese tage viel mit Zurhein und anderen bayerischen Politi-
kern. Alles ist per la vita österreichisch gesinnt ohne weitere arriérepensée,
gegen Preußen mit oesterreich, wohin dieses auch gehe, und darüber dürfte
im nächsten landtage vonder Pfordten stürzen, dessen verletzte eitelkeit
über Buol’s schlechten empfang letzten Winter ihn preußisch gemacht hat.
der könig hält fest zu diesem und ist ganz in dönniges’s hand und möchte
gerne im nothfalle eine andere verfassung octroyiren, wird es aber nicht
wagen, doch sind darüber schon fühler ausgestreckt worden, er ist schwach,
eitel und wird von den bedrohten seiten her mit schreckbildern von repu-
blik etc. (!) geängstigt.
die Jämmerlichkeit der zusammengeflickten Bundesverfassung wird tief
gefühlt und beklagt, aber wer soll helfen? die 2 großmächte neutralisiren
sich gegenseitig, und die mittelstaaten, d.h. ihre regierungen fühlen, daß sie
sich durch eine kräftigung des Bundes schwächen, freylich auch ihre exi-
stenz sichern, aber so weit sehen sie nicht, in den würtembergischen kam-
mern ist so eben ein Antrag auf volksvertretung im Bundestage gestellt wor-
den.
mittlerweilen frißt die democratie und die organisirte demagogie, d.i. die
Bureaukratie immer weiter, in Preußen und oesterreich wie in den klein-
1 Wohl der Wiener Bankier Johann stametz-mayer (-meyer).
2 die im Juni 1855 angeordnete reduktion des Armeestandes um 140.000 mann.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien