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Tagebücher198
staaten, in frankreich ist Alles hohl und unterwühlt und kann kaum mehr
lange dauern, dann wird sich die ganze misére zeigen.
ich lese jetzt mit dem lebhaftesten vergnügen oersteds geist in der
natur,1 da und in ähnlichen Werken ist doch hundertmahl mehr verstand
und interessse als in aller Politik.
schmähliche geschichten habe ich durch mayer gehört über die Art und
Weise, wie bey uns alle Actiengesellschaften, von der Bank angefangen, ihre
geschäfte behandeln. hofdienerey, speichelleckerey gegen die regierung,
unverläßlichkeit etc., da kann nichts gedeihen, da muß auch noch ein don-
nerwetter dazwischen fahren.
coburg 1. August
Am 30. früh 10 uhr verließ ich kissingen, nachdem ich den Abend vorher
noch bey einer sogenannten litterarischen soirée bey fürstinn Auersperg
gewesen war, wo der jämmerliche Wiener Possenreißer castelli einige seiner
Produkte vorlas.
über schweinfurt, Bamberg und lichtenfels kam ich gegen 6 uhr nach-
mittags hierher und hatte gleich mein stückchen 1848 und demokratischen
besoffenen Jubel, es gab nämlich ein sängerfest und liedertafeln von weit
und breit, Bier und gemeinheit, das ist der deutsche liberalismus. Zum
glücke war es der letzte tag. Bey francke traf ich samwer und ging mit
ihnen und frau francke-niebuhr2 ins theater, wo großer sängerball war,
der herzog mit seinem ganzen hofstaate war auch da, und als er erfuhr,
daß ich da sey, wollte er mich durchaus sprechen, dem ich, angeblich weil
ich im reisecostume sey, eigentlich aber deßwegen ausweichen wollte, weil
ich lieber am nächsten tage eine ausführliche als jetzt eine unterredung
von 2 Worten haben wollte, er ging nämlich gestern vormittag fort. es half
aber nichts, der herzog kam herab, um mich im Parterre aufzusuchen, und
ich hatte eine conversation von geringe gerechnet 1 1/2 stunden mit ihm.
von gleichgültigen dingen anfangend, ging er auf seine colonisationspro-
jecte in ungarn, dann auf allgemeine Politik über, meinte, so ein fest wie
das heutige, so ordentlich und anständig, ohne alle Polizey, könne jeder re-
gierung zum exempel dienen etc., sprach dann von der russischen frage,
dem deutschen standpunkte, den vielen versuchen, die er gemacht habe,
um oesterreich zu einem raschen handeln zu bewegen, wie er uns Polen, die
1 hans christian oersted, der geist in der natur (leipzig 1850) als erste Ausgabe der deut-
schen übersetzung des dänischen originals.
2 karl francke, so wie Andrian mitglied der frankfurter nationalversammlung (für den
schleswigschen Wahlkreis flensburg), war seit 1848 in zweiter ehe mit Amalie niebuhr,
einer tochter des historikers Barthold georg niebuhr, verheiratet.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien