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angenehmes intérieur, diese norddeutschen sind doch lauter gentlemen im
vergleiche zu den bier- und tabakstinkenden, kneipenden süddeutschen,1
nachmittag gingen wir in die feste coburg hinauf, wo man eine wunder-
schöne Aussicht hat, und besahen uns das sehr interessante schloß, gefüllt
mit merkwürdigen dingen aus dem mittelalter, Waffen, münzen, geräthen
aller Art, Büchern, kupferstichen etc., in einem Zimmer, wo luther wäh-
rend des Augsburger reichstages verweilte, steht noch seine Bettstatt,
aber mehr als zur hälfte abgeschnitzelt, denn ein splitter davon soll gegen
Zahnschmerzen helfen! unten in einem eigenen Zimmer steht das colossale
Brustbild christans 8. von dänemark als Beute von dem 1849 bey eckern-
förde genommenen dänischen kriegschiffe, dessen commandant sich an
den herzog ergab.
francke ist ruhiger, mehr staatsmann und diplomat als die Andern hier,
obwohl schleswigholsteiner und zwar mit leib und seele, dabey ein durch
und durch gebildeter mann, der noch immer liest und studirt, ich habe sehr
angenehme und interessante stunden in seinem hause zugebracht, viele
merkwürdige und nützliche détails über deutsche verhältnisse, über die
kleinen deutschen höfe und staaten und über meine zahlreichen freunde
und Bekannte aus dem Jahre 1848 und ihre schicksale erfahren, so daß
mir der stoff auch nicht auf einen Augenblick ausging, ja mir die Zeit für
manches, was ich fragen und hören wollte, zu kurz wurde. Auch interes-
sirt mich der feurige thätige Patriotismus und die rührigkeit aller dieser
schleswigholsteiner, ihre frauen und selbst die kleinen kinder nicht aus-
genommen. ich hätte nicht übel lust, einmal einen längeren Aufenthalt in
diesen gegenden und überhaupt in deutschland zu machen, um die deut-
schen verhältnisse wieder einmahl gründlich zu beobachten.
Auch den alten minister lepel besuchte ich heute, eine ganz verschie-
dene und dennoch interessante Persönlichkeit, voll interessanter erinne-
rungen aus den 20er und 30er Jahren und die neue demokratische und
auch die einheitliche Richtung verabscheuend, ich finde, daß ich mit diesen
leuten in mehr als einer richtung, namentlich in dem hasse gegen die
48er ideen sympathisire.
Bassermann hat sich in einem Anfalle von Wahnsinn entleibt. Briegleb,
den ich ebenfalls aufsuchen wollte, ist abwesend.
1 karl francke stammte aus schleswig, war von 1838 bis märz 1848 dänischer Beamter,
darauf führender Politiker in schleswig-holstein (märz 1848–August 1849 regierungsprä-
sident der provisorischen regierung, August 1849–1851 leiter des finanz-, seit 1850 auch
des departements für die auswärtigen Angelegenheiten der statthalterschaft) und kam
1851 als Präsident der landesregierung nach coburg.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien