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Tagebücher210
eingehalten werden, wir haben ausführliche schriftliche und mündliche
Explicationen gehabt, sie ist eine ganz vortreffliche in mancher Hinsicht
bewundernswürdige frau, treu wie gold, die aber jetzt nicht nur mit ihren
umgebungen, sondern am allermeisten mit sich selber zu kämpfen hat. ich
liebe und achte sie täglich mehr, und zwar mit der wohlthuenden ruhe,
welche die Überzeugung von ihrem felsenfesten Character mir einflößt.
Wir haben jetzt seit etwa 10 tagen herrliches Wetter und eine kanniba-
lische hitze, welche mir wie immer sehr angenehm und zuträglich ist. in
Baden war ich schon seit 8 tagen nicht, dagegen fahre ich fast täglich nach
schönbrunn, hietzing etc. die stadt ist leer und langweilig, und ich bin
froh, daß ich bald wegkomme.
ich habe so eben moleschotts „kreislauf des lebens“ gelesen,1 und seit
lange hat mich kein Buch so angezogen, wenn ich auch die materialisti-
schen Ansichten des verfassers für nicht begründet halte, er ist ein geist-
voller allumfassender Beobachter, den ich gerne persönlich kennen möchte.
Paris 10. september
Am 3. Abends verließ ich Wien und fuhr bis dresden, wo ich tags darauf
nachmittag ankam und in dem reizenden hôtel Bellevue abstieg. dort blieb
ich 24 stunden und sah mir die Bildergallerie in ihrer neuen Aufstellung
im Zwinger an. Am 5. Abends 6 uhr fuhr ich fort, begegnete im leipziger
Bahnhofe Bela hadik, welcher eben von Paris kam, wo er dem kaiser einen
Brief des erzherzog ferdinand max überbracht hatte (der sich ein paar
tage im hafen von toulon aufhielt), fuhr die nacht durch mit einer kran-
ken ziemlich hübschen russinn bis frankfurt und von da gleich weiter über
heidelberg, kehl und strasburg bis hieher, wo ich am 7. um 6 uhr früh
ankam und im Hôtel Byron, Rue Laffitte abstieg. Es ist hier ein Gewühl
von fremden aller länder, wie ich es hier noch nie gesehen, alle hôtels und
restaurants überfüllt, ein leben und eine Prosperität, gegen welche unser
Wien mir noch spießbürgerlicher als sonst erscheint.
in der Weltausstellung bin ich schon ein paarmale gewesen, ohne mich
darin bisher auch nur oberflächlich zu orientiren, so ungeheuer groß ist das
ganze, ich werde wahrscheinlich darin die meisten meiner vormittage zu-
bringen, denn es ist selbst für den nichtindustriellen eines der interessan-
testen spektakel der Welt.2 die Abende gehe ich in eines oder das andere
der hiesigen theater. Paris ist die einzige stadt, in welcher ich dieses mit
vergnügen thue, denn nur hier gibt es schauspieler, die einen vollkommen
1 Jacob moleschott, der kreislauf des lebens. Physiologische Antworten auf liebig’s chemi-
sche Briefe (mainz 1852).
2 die Pariser Weltausstellung war am 1.5.1855 eröffnet worden.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien