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September 1855
befriedigen, und stücke, welche einen geistig anregen. Alles Andere ist
stümperey, namentlich ist das théatre français das erste theater der Welt.
sonst habe ich wenige Bekannte gefunden, die Pariser sind auf dem
lande oder auf reisen, der große Zug der fremden ist mit der königinn
victoria verschwunden.1 Bisher habe ich von unserer gesandtschaft bloß
ottenfels gesehen, hübner ist unpäßlich auf dem lande, sonst sah ich die
Brüder Buseck, czoernig, frau v. schwarz, Buscheck etc.
gabriele neuwall sah ich am Abende meiner Ankunft im vaudeville, wo
man die filles de marbre gab, unter den obwaltenden Verhältnissen hielt
ich es für angezeigt, keine notiz von ihr zu nehmen, um so mehr, als ich
ihr bereits in Wien meine hiesige Adresse gegeben hatte, sie hat mir seit-
dem kein lebenszeichen zukommen lassen, und ich schließe daraus, daß
ich wohl that, sie nicht zu bemerken, da ich sie seitdem nicht sah, denke
ich, wird sie wohl abgereist seyn.
gabrielli ist abwesend, bath mich aber schriftlich, ihm zu sagen, wann
ich ihn zu sehen wünsche, ich habe ihm die Zeit zwischen dem 15. und
20. dieses monats angegeben. mittlerweilen will ich mich hier umsehen
und ein wenig orientiren, was nicht leicht zu seyn scheint, denn es ist die
tollste, confuseste Abenteuerwirthschaft von der Welt, wie es scheint. Alle
schwindler, alle robert macaires von europa schaaren sich hier um ih-
ren großmeister louis napoléon, und für den Augenblick mit dem glän-
zendsten erfolge. crédit mobilier, schwindelhafte unternehmungen aller
Art tauchen auf und machen bis jetzt brillante geschäfte, und auf diese
momentane Prosperität stützt sich die regierung l. napoléons, auf sonst
nichts, eine Partey im lande hat er nicht.
da ich nun, ziemlich gegen meine neigung, durch Bruck in dieselbe rich-
tung gedrängt wurde, so ist dieses eine ursache mehr, um mich hier in
dieser Beziehung genau umzusehen. Bruck will nun eine filiale des hiesi-
gen crédit mobilier nach oesterreich ziehen und klopft überhaupt an allen
thüren und nicht immer mit gehöriger vorsicht und Auswahl, daß man
aber, wenn man das geld des occidents haben will, sich auch an die Politik
des occidents anschließen wird müssen, begreift er bis jetzt noch nicht.
heute früh kam die nachricht von der einnahme des malakoffthurmes,2
heute Abend die von der einnahme des südlichen theiles von sebastopol,
1 königin victoria hatte im August 1855 den Besuch von kaiser napoleon iii. vom mai erwi-
dert.
2 die festung malakoff, eine der Befestigungsanlagen vor sebastopol, wurde am 8.9.1855
von französischen truppen unter Aimable Pélissier, später duc de malakoff, eingenom-
men. darauf erfolgte die räumung der stadt durch die russen. in den folgenden Jahren
wurden zahlreiche massive Ziegeltürme, etwa fördertürme im ruhrgebiet, als malakoff-
türme bezeichnet.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien