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Tagebücher220
Alles, kein schwung, kein ausgedehnter gedankenhorizont, kein interesse
an dem, was über ihren nächsten kreis hinausreicht, namentlich nicht
an allem dem, was mich politisch, philosophisch, wissenschaftlich anregt,
nicht einmahl ein brillanter verstand und eine sparkling conversation,
daher wenig anregende unterhaltung. dagegen ziemlich viel précieuseté1
und Gesuchtheit, Concetti und eine überfluthende Sentimentalität, die mir
immer, und selbst bey ihr oft, widerlich ist, ich hasse nichts mehr als diese
unentschlossene und verzweifelnde gemüthswirthschaft.
frankfurt 12. october Abends
Am 8. besuchte ich victor cousin in seiner klösterlichen Wohnung in der
sorbonne, er zeigte mir seine werthvolle Bibliothek voll der seltensten bi-
bliographischen raritäten, eine solche Abgeschiedenheit mitten in dem
fieberhaften Getümmel von Paris muß einen eigenen Zauber haben. Mrs.
norton reiste am 10. früh nach england ab, und ich, der ich nun in Paris
alle meine geschäfte beendigt hatte, that dasselbe. ich sah talabot und
Blount noch am selben vormittage, sie schienen mir, namentlich der letz-
tere, sehr betroffen über die zunehmende geldkrisis in london und Paris
und empfahlen mir, die verhandlungen möglichst in die länge zu ziehen,
indem unter den gegenwärtigen verhältnissen an ein Aufbringen der nöthi-
gen capitalien nicht zu denken sey, der ingénieur, welcher die in Wien
ausgearbeiteten Pläne etc. vorläufig zu prüfen haben wird, soll längstens
bis 20. dort eintreffen.
gabrielli habe ich auf sein Ansuchen an der unternehmung für den fall
ihres Zustandekommens seinen betreffenden Antheil zugesichert.
ich fuhr also vorgestern Abends 8 uhr von Paris ab, wieder über strass-
burg, und war gestern um 1/2 4 nachmittags hier, wo ich im englischen
hofe abstieg. das Wetter ist seit 5–6 tagen fast immer schlecht, und seit
ich in Frankfurt bin, regnet es fortwährend und ist empfindlich kalt.
Blittersdorf ist zu meinem großen verdrusse abwesend, in Baden, ich te-
legraphirte ihm diesen morgen dahin, habe aber noch keine Antwort, nicht
einmal nachricht, ob er meine depesche empfangen, die linie scheint in
ziemlicher unordnung zu seyn, doch hoffe ich, er wird bis morgen früh hier
seyn, habe deßhalb meine Abreise bis morgen Abend aufgeschoben, denn
ich möchte die sache wegen der mir durch ihn hier zugesicherten 5 millio-
nen fl ins Reine bringen.
montag den 15. früh hoffe ich in Wien zu seyn. Bruck war in ischel, und
man erwartet, daß er von dort seine finanzpläne fertig zurückgebracht ha-
ben wird, ich erwarte keine großen dinge davon.
1 Wohl préciosité – Ziererei, gekünstelter stil.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien