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22910.
November 1855
übermorgen nach Paris, das Wetter ist noch immer schön und ziemlich warm,
sonst nicht viel neues, der Antagonismus im ministerium nimmt immer zu,
und Bach jammert gegen alle leute über Bruck und seine maßregeln.
Wenn ich Zeit zum lesen habe, lese ich jetzt die letzten Bände von stein’s
leben von Pertz.1 Wie ganz anders sieht die Welt jetzt gegen damals aus!
und doch sind nicht mehr als 30 Jahre seit jener Zeit verflossen, welche diese
letzten Bände schildern, die Ansichten, die stellung der Parteyen und der
regierungen, die politischen und die ökonomischen verhältnisse, wie viel
anders sind sie geworden! und dennoch, trotz dieser enormen verschieden-
heiten und trotz der eben so großen verschiedenheit des Alters finde ich
eine merkwürdige Ähnlichkeit der Ansichten, ja sogar der charaktere zwi-
schen stein und mir. in manchen dingen, das fühle und gestehe ich, fällt
der vergleich nicht zu meinem vortheile aus, hätte ich das glück gehabt,
als Protestant geboren zu werden, in dem sittlichen ernste und den festen
unwandelbaren grundsätzen auferzogen zu werden, welche wenigstens mei-
nes erachtens nur der Protestantismus gibt, wäre ich nicht in der geist- und
principienlosen doctrin der metternichschen Zeit aufgewachsen, welche kei-
nen höheren grundsatz anerkannte als den: carrière und fortune zu ma-
chen, oder wäre ich wenigstens in einer vollkommen klaren und unabhän-
gigen stellung geboren worden anstatt in einer solchen, welche einerseits
anspruchsvoll, anderseits unzureichend war und mir die nothwendigkeit
gleichsam auferlegte, eine solche carrière zu machen, so hätte sich meine
entwicklung anders, schneller und tadelloser gestaltet. ich wäre, so hoffe
ich, nicht anders geworden, als ich jetzt bin, aber ich wäre es früher und
sicherer geworden, und ich hätte nicht jene Periode einer jämmerlichen,
würdelosen und unruhigen Ambition durchgemacht, deren ich mich jetzt
schäme, und die nur darin einige entschuldigung finden kann, daß ich da-
mals für meinen ehrgeitz und meinen thätigkeitsdrang kein höheres feld
als das mir vorgepredigte kannte. Jedermann, und wohl auch stein, mag in
seiner entwicklung solche Perioden des schwankens und der verwirrung
durchgemacht haben, und von mir weiß ich, daß ich auf manches, was ich
in früheren Jahren gethan, mit einiger Beschämung zurückblicke, übrigens
danke ich gott, daß ich nicht zu sagen brauche: mit reue. schlechtes, ge-
meines habe ich gottlob mir nie vorzuwerfen gehabt.
[Wien] 10. november
mit Ausnahme zweyer regentage ist das Wetter noch immer schön und für
die Jahreszeit auch nicht kalt, ich heize noch immer nicht, es ist sünde und
1 georg heinrich Pertz, das leben des ministers freiherrn vom stein. 6 Bde. (Berlin 1849–
1855).
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien