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Tagebücher240
geben werden, obwohl ich keine habe, denn man hat mich ebenso wie sie an
der nase herumgeführt, freylich in der meinung, da man mir keinen materi-
ellen schaden zufüge, würde ich mir nichts daraus machen.
ich habe noch in diesen letzten tagen, um meinen committenten zu be-
weisen, daß wenigstens ich sie nicht sitzen lasse, mit rothschild gesprochen
und eine fusion mit der nordbahn aufs tapet gebracht, doch hat dieser
schäbige Jude seine eigenen Absichten, mit denen er übrigens schwerlich
durchdringen wird, und merck wird wohl den sieg davontragen, was auch
unter den gegenwärtigen umständen das Beste wäre.
Wien war noch nie so unausstehlich langweilig als jetzt, und nach und
nach fangen die leute an, es zu begreifen, namentlich wird der vergleich
mit Paris immer öfter gehört, welches immer mehr zur hauptstadt des con-
tinentes sich aufschwingt, während Wien zu einer armseligen Provinzstadt
zusammenschrumpft. gestern war ich beym erzherzog Johann, immer der
alte Phraseur. gabriele neuwall sehe ich oft, obwohl nicht ganz so oft wie
im vorigen Jahr, da sie dieses zur Beschwichtigung ihres mannes für nöthig
hält, derselbe scheint denn doch nach und nach ruhiger zu werden und sich
an das unvermeidliche zu gewöhnen, diesen entwicklungsprozeß muß man
nicht stören, auch sie lebt heuer viel zurückgezogener als sonst, geht nir-
gends hin als ins theater, ist aber viel heiterer, ruhiger und entschlossener,
im ganzen glücklicher als im vorigen Jahr, elle a pris son parti, ich sehe sie
daher auch sonst nirgends als bey ihr, und dieses fast nur am vormittage
und meistens allein, um so besser, denn die salons, die ich ihretwillen be-
suchte, die leute, die ich um sie sah, waren mir größtentheils widerwärtig,
ebenso unbedeutend wie die, unter denen ich lebe, nur weniger gentleman-
like und weniger Berührungspunkte. sie selbst aber hat, wie mir vorkömmt,
in jeder hinsicht sehr gewonnen.
[Wien] 12. Jänner 1856
Wir hatten jetzt durch 8 tage ein so vollkommenes thauwetter mit regen
und stinkendem nebel, daß der schnee gänzlich verschwunden ist. heute
fällt frischer schnee, und das geht nun so in angenehmer Abwechslung bis
zum may fort.
merk hat die concession erhalten,1 für ein drittheil der Aktien tritt die
creditanstalt ein, mit rothschild und seinen genossen hat er sich noch aus-
einanderzusetzen, eben so mit mir, sowohl hinsichtlich meiner persönlichen
stellung zu der sache als wegen der hinter mir stehenden capitalisten. tal-
abot & c. sind zurückgetreten und zwar, wie ich erwartet hatte, in ziemlich
gereizter Weise, sie haben mir verblümt und gegen rothschild offen zu ver-
1 für die Westbahn, vgl. eintrag v. 23.12.1855.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien