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ein diplomatischer Bruch schien unvermeidlich, wenn man auch deßwegen
noch nicht an krieg glaubte, die ungarischen Altconservativen, diese lächer-
lichste und abgenützteste aller Partheyen, fand wieder einen willkommenen
Anlaß, demonstrationen zu machen und über den bevorstehenden Bruch mit
rußland zu heulen. da kam plötzlich am 16. Abends eine telegraphische de-
pesche: rußland nehme unsere Propositionen einfach und ohne vorbehalt
an. der kaiser posaunte dieses sogleich auf dem kammerballe aus, und noch
in derselben nacht stiegen alle Papiere in einem unglaublichen maaße, seit-
dem herrscht friedensjubel und friedenssicherheit, man unterhält sich nur
mehr, wo die conferenzen eröffnet und wer dazu bestimmt werden solle?
und der himmel hängt voller geigen.1
ich meinerseits habe im ersten Augenblicke nicht geglaubt und glaube
noch jetzt nicht, daß der friede so nahe sey. rußland hat unsere Propositio-
nen als Basis der zu eröffnenden unterhandlungen angenommen, da läßt
sich dann noch viel chicaniren, und es gibt noch der fragen genug, z.B. die
integrität des türkischen reichs, die europäische garantie desselben, die
gegenforderungen rußlands etc., welche noch zu erörtern sind. ich kann es
mir nicht denken, daß rußland nach den geringen resultaten, welche seine
gegner bisher errungen haben, sich zu einem so demüthigenden frieden
herbeylassen sollte, und selbst wenn kaiser Alexander, wie es heißt, per-
sönlich und durch den einfluß der beyden kaiserinnen2 für den frieden
gestimmt ist, kann ein rückschlag, ja sogar eine gewaltsame katastrophe
bey der exaltation, welche in rußland herrscht, und der offenen opposition
des großfürsten constantin leicht eintreten. dazu kömmt, daß england,
welches natürlich unter dem gefühle seines durch seine bisherige erfolg-
lose kriegführung gesunkenen Ansehens nicht für den frieden seyn kann,
über diese Annahme von seiten rußlands wüthend ist, und louis napoleon,
wenn er auch hier den friedliebenden spielt, ist, wie ich allen grund habe
zu glauben, aus dynastischen und persönlichen ursachen im herzen ebenso
kriegerisch wie england, nur hier und in den kleinen deutschen staaten
herrscht eine aufrichtige friedenshoffnung.
Wir müssen nun die Ankunft des couriers abwarten, welcher die russi-
sche depesche bringen wird, da wird sich wohl manches Wenn und Aber
1 ein österreichischer friedensvorschlag, basierend auf dem vierpunkteprogramm der
Westmächte (vgl. eintrag v. 9.12.1854), war am 28.12.1855 in sankt Petersburg überge-
ben worden. nachdem die erste russische Antwort unbefriedigend war, drohte österreich
ultimativ mit dem Abbruch der Beziehungen am 18.1.1856. Am 16. Jänner nahm darauf
russland den österreichischen vorschlag an. die friedensverhandlungen begannen am 25.
februar in Paris, der friedensvertrag wurde am 30. märz unterzeichnet.
2 die mutter Alexandra feodorovna (Prinzessin charlotte v. Preußen) und gattin maria
Alexandrovna (Prinzessin maria v. hessen-darmstadt) von Zar Alexander ii.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien