Page - 246 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Volume III
Image of the Page - 246 -
Text of the Page - 246 -
Tagebücher246
Anlaß genug, sowie auch das steigende Zerwürfniß zwischen england und
Amerika, welches rußland in die hände arbeitet. dieses letztere manœu-
vrirt offenbar sehr geschickt, indem es sich jetzt durch ein volles monath
ganz rückhaltslos friedliebend stellt und damit Alle, die in europa den frie-
den wünschen, auf seine seite bringt, zugleich aber frankreich von england
loszureißen versucht. letzteres ist offenbar in einer falschen Position, und
das beliebte schreyen und Wüthen über den englischen krämergeist und
die englische Perfidie geht in verdoppeltem maaße wieder los. russen, Ab-
solutisten, demokraten und jetzt auch noch die friedensfanatiker aller far-
ben reichen sich dabey die hände. dennoch glaube ich nicht, daß napoleon,
dessen stimme ja jetzt allein in frankreich zählt, sich von england trennen
wird, namentlich aber glaube ich nicht, daß er so sehr für den frieden ge-
stimmt sey, als man hier glaubt, der friede ist für ihn gefährlicher als der
krieg, denn in frankreich steht seine macht auf ziemlich schwachen füßen.
Wir klammern uns fieberhaft an ihn, und das ist ebenso würdig als weise.
die speculationswuth steigt mit jedem tage, die industriepapiere (nicht
die staatspapiere) steigen ins schwindelhafte, das silber steht bey 6–7%,
die ärmsten handwerker, diener, alte Weiber etc. spielen auf der Börse, und
Bruck begünstigt es, in der meinung, dadurch fremde capitalien zu locken
und so die valuta herzustellen, das ist ein gefährliches spiel. daß alles dieses
(hierlands noch nicht dagewesene) auch seine unvermeidlichen politischen
folgen haben wird und muß, daß alle die neuen und mächtigen, zum theile
unter dem schutze fremder regierungen stehenden Actiengesellschaften,
welche jetzt entstehen, der regierung immer mehr über den kopf wachsen
und ihre omnipotenz immer mehr schmälern müssen, ebenso wie es das con-
cordat nach einer anderen seite hin gethan hat, das Alles scheint dem jungen
herrn1 sowie überhaupt vieles Andere nicht klar geworden zu seyn.
meine Broschüre, oder richtiger gesagt mémoire, habe ich vorgestern
Bruck übergeben, und zwar in der Art, wie ich es neulich hier andeutete,2
daß es in diesem Augenblicke eine weitere practische Bedeutung erlangen
werde, glaube ich durchaus nicht, dennoch aber habe ich es für zweckmäßig
gehalten, Bruck, welcher nun einmahl gegenwärtig der einzige ist, welcher
Ähnliches durchführen könnte, eine Art von Programm und zugleich einen
sporen zu geben, er ist in fragen der Administration ebenso wie in denen
der Politik durchaus nicht gründlich bewandert, um so mehr braucht er da-
her Beydes.
der Arsenale am asiatischen ufer des schwarzen meeres sowie der Befestigungen im kau-
kasus.
1 kaiser franz Joseph.
2 vgl. einträge v. 12.1. und 1.2.1856.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien