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Tagebücher250
von der geburt eines kindes, wahrscheinlich eines sohnes, denn das klingt
besser,1 das ganze ist ja doch nichts andres als eine Börsenspeculation.
es zeigen sich symptome einer Annäherung zwischen uns und england,
was wieder auf ein kokettiren frankreichs mit rußland schließen läßt, doch
fürchte ich letzteres weniger als sonst, die Zeiten der eroberungspolitik sind
vorüber, wenigstens vor der hand, und wir sind unaufhaltsam in die Politik
des Westens hineingezogen. dieses betrachte ich als das größte resultat des
nunmehr beendeten krieges, finanziell, volkswirtschaftlich und daher bald
auch politisch (ich meine die innere Politik) gehören wir nunmehr dem We-
sten an.
es ist daher auch nothwendig, daß wir, d.h. ich und die mit mir gleich oder
ähnlich denken, uns nun wieder einmahl zusammenfinden und uns gründ-
lich und ernsthaft besprechen, seit 4–5 Jahren ist nichts Ähnliches gesche-
hen, denn wir waren gesprengt und hoffnungslos.
Welche stellung rußland nun europa gegenüber einnehmen wird, läßt
sich jetzt noch gar nicht bestimmen, vielleicht eine ganz andere als bisher,
es hat gesehen, daß ihm seine bisherige rolle: sich als der hort des soge-
nannten monarchischen, recte des absoluten Principes hinzustellen, keine
früchte getragen hat, vielleicht greift es jetzt nach einer anderen.
große sensation erregt das duell in Berlin, worin hinkeldey gefallen ist,
nach meiner Ansicht ist es eine der interessantesten manifestationen der
gegenwart, es war ein duell zwischen dem staate und der gesellschaft.2
Wenn der moderne staat in alle Privatverhältnisse eingreifen, die leute von
oben herab glücklich und moralisch und gebildet machen will, so wehrt sich
die gesellschaft um ihre selbstständigkeit, und da müssen dann solche op-
fer fallen, überall ist es ein kampf gegen die omnipotenz des staates, hier,
wo man zu dumm ist, um irgend ein Prinzip zu begreifen oder zu erkennen,
ist es ein unbewußter tölpelhafter kampf im finstern, aber das concordat,
die vielen neu auftauchenden industriellen etablissements etc. bedeuten am
ende doch nichts Anders.
1 tatsächlich kam am 16.3.1856 napoléon eugène, das einzige kind des französischen kai-
serpaares, zur Welt.
2 der Berliner Polizeipräsident carl v. hinckeldey war, nachdem er gegen einen hazard-
spielklub des Adels vorgegangen war, von einem der beteiligten spieler zu einem duell
provoziert worden und wurde dabei am 10.3.1856 getötet. An seinem Begräbnis, einer de-
monstration des bürgerlichen Berlin gegen den konservativen Adel um die kreuzzeitung,
nahmen über 100.000 menschen teil. Besonders umstritten war in der Affäre die rolle des
königs, der zunächst den Auftrag zum vorgehen gegen den hazard gegeben hatte, dies
jedoch später leugnete und dabei von hinckeldey gedeckt wurde, der eine königliche order
in Abrede stellte.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien