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Mai 1856
der friede, welcher nun ratificirt und publicirt ist, ist ein wahres flick-
werk zu nennen, dem man die hast und friedenswuth der Börsenmänner
und die mauvaise foi des gauners en chef, louis napoleon, ansieht. die un-
haltbare fiction der lebensfähigkeit des türkischen reiches und die Preis-
gebung seiner christlichen unterthanen sind dessen hervorstechendsten
Züge,1 letztere wird dann doch dem wieder hervorbrechenden türkischen
fanatismus gegenüber nicht durchzuführen seyn, daher bald abermals zum
Zankapfel werden, mittlerweilen aber nur dazu dienen, rußland im oriente
sympathien zu erwerben.
ein corollarium des friedens ist die freygebung der donau, daher das
erlöschen der Privilegien unserer dampfschifffahrtsgesellschaft, was hier
keinen geringen lärmen erregt. Buol hat in Paris umsonst versucht, die
Bestimmungen des Wienercongresses auf die untere donau zu beschrän-
ken.2
Auch in italien spuckt es wieder, und die dießfalls in Paris geschehenen
schritte sardiniens haben die Aufregung nur vermehrt und unsere (oft sehr
unverständige) erbitterung gegen diese regierung vermehrt. louis napo-
leon scheint da manches in petto zu haben, was uns nicht besonders freuen
wird, obwol wir uns noch immer den Anschein der innigsten freundschaft
mit ihm geben, übermorgen geht erzherzog ferdinand max mit Alex. mens-
dorff nach Paris!! angeblich um einer im vorigen Jahr an ihn ergangenen
einladung des kaisers folge zu leisten. in diesem Augenblicke, wo orloff
und rußland in Paris first fiddle spielen, finde ich das würdelos und unge-
schickt. man scheint sich hier überhaupt ziemlich unbehaglich zu fühlen,
wie vorauszusehen war. rußland ist gereizt und gibt sich nicht die mühe, es
zu verbergen, das beweist die ernennung gortschakoffs zum minister des
1 Im Frieden von Paris v. 30.3.1856 (Austausch der Ratifikationen am 27. April) wurde das
osmanische reich formal in das internationale recht und das europäische konzert aufge-
nommen, verpflichtete sich jedoch gleichzeitig, Maßnahmen zur Gleichstellung der christli-
chen untertanen mit den mohammedanern zu setzen. Außerdem musste russland zustim-
men, dass durch den krieg seine verträge mit der türkei aufgehoben wurden. damit sollte
der Anspruch russlands, als Protektoratsmacht den schutz der christen in der türkei
garantieren zu müssen, beseitigt werden. Gleichzeitig verpflichteten sich die Mächte, die
unabhängigkeit und territoriale integrität der türkei zu achten und eine verletzung als
eine frage des allgemeinen interesses anzusehen (eine direkte garantie auch für die Zu-
kunft scheiterte am Widerstand russlands).
2 die versuche österreichs, die freie schifffahrt auf die untere donau zu begrenzen, scheiter-
ten, wodurch die Bestimmungen über die internationalen ströme der Wiener kongressakte
von 1815 nunmehr auch auf die obere donau Anwendung fanden. Als konsequenz wurden
eine kommission der uferstaaten zur regelung des donauverkehrs sowie eine zweite eu-
ropäische kommission, zuständig für den internationalisierten Bereich des deltas und der
mündungen, eingerichtet.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien