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Tagebücher262
[Wien] 8. Juny
Wir haben 8 tage afrikanischer hitze gehabt, bis 31° r. im schatten, darauf
folgte vorgestern ein tüchtiges gewitter und in folge dessen eine tempera-
turänderung von 20°!! man fürchtet in folge der dürre eine schlechte ernte,
hier und auswärts.
in politicis nicht viel neues als dass die Aufregung in italien im Zuneh-
men ist, ebenso unsere spannung mit russland, unsere isolirte stellung tritt
immer mehr hervor, trotz des beständigen nachgebens, welche in Paris und
seitdem unsere einzige Politik ist, so räumen wir jetzt die fürstenthümer
knall und fall, noch ehe die Alliirten die türkey verlassen, und werden
wohl, wenn diese ernstlich darauf bestehen, auch die vereinigung derselben
in einen staat zugeben, zu unserem allergrößten schaden.
Bruck, der seit 14 tagen zurück ist, schwindelt wieder in gewohnter
Weise weiter, hält niemandem Wort, mischt sich in die kleinsten détails
der organisirung der neuen gesellschaften, macht sich aber dadurch eine
menge feinde, sorgt für den eigenen Beutel und steckt ganz im sacke des
elenden Juden rothschild. ich glaube, sein stern ist bereits im sinken, seine
feinde und tadler mehren sich und werden lauter, und man fängt an zu be-
merken, daß er für seine eigentliche Aufgabe: die herstellung der finanzen,
gar nichts gethan hat, sondern ausschließlich schwindelgeschäfte betreibt,
der Aventurier ist in ihm zum durchbruche gekommen, für Politik und in-
nere reform hat er jeden sinn verloren. das traurige bey der sache ist, dass
man seinen sturz noch wird beklagen müssen, denn es wird darauf eine re-
action der Bürokratie folgen.
ich habe mit ihm vorgestern eine ziemlich unangenehme unterredung
gehabt und in folge dessen meine stellung in der italienischen gesellschaft,
noch ehe ich sie angetreten, niedergelegt, recte sie ist mir genommen wor-
den. galliera ist nähmlich zum vicepräsidenten ernannt worden. Bruck
hätte es gerne gesehen, wenn ich meine stellung als arbeitendes indivi-
duum und zugleich als jeweiliger vertreter cordons sammt dem dieser stel-
lung anklebenden gehalte beybehalten hätte, wobey es jedoch (wie er und
cordon seit der zwischen diesem letzteren und mir eingetretenen spannung
die Bestimmungen der statuten deuten) von cordon abgehangen hätte,
diese stellvertretung bald mir, bald einem andern verwaltungsrathe nach
gutdünken und auf Widerruf zu übertragen. dessen weigerte ich mich wie
natürlich, und so bleibe ich denn simpler verwaltungsrath ohne irgend eine
bevorzugte stellung, habe aber dagegen meine volle freiheit wiedererlangt
und kann gehen und kommen, wie es mir gefällt. ich will nun sehen, wie
weit sie damit kommen, ich glaube nicht sehr weit, denn sowie der ver-
waltungsrath zusammengesetzt ist, glaube ich, ein unentbehrliches indivi-
duum zu seyn.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien