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Juni 1856
Bruck schadet sich sehr in der öffentlichen meinung durch seine (mir
kaum auf rechtlichem Wege erklärliche) Protektion cordons, über dem näch-
stens ein donnerwetter hereinbrechen dürfte wegen seiner ebenso täppisch
angefaßten als unehrenhaften speculationen, welche allerdings mit dem ge-
neralsrock nicht zusammengehen.
gabrielle ist in der Weilburg, gabriele neuwall in meidling, wo ich sie oft
besuche, ich sehne mich aus dieser stinkenden stadt und diesen noch stin-
kenderen geschäften fort.
[Wien] 22. Juni
heute fällt der erste etwas ausgiebige regen seit dem vorigen herbste, es ist
eine beyspiellose dürre und hitze gewesen, und daher schlechte ernteaus-
sichten. dazu kommen noch außerordentliche hagelschäden in Böhmen und
oesterreich.
ich lebe hier noch langweiliger und einförmiger als im Winter, fahre nach-
mittags gewöhnlich nach schönbrunn hinaus, um etwas reinere luft zu schöp-
fen, frühstücke des morgens im Paradiesgarten. Besuche öfters am vormittag
und manchmal am Abende gabriele neuwall in meidling. dieses verhältniß
will sich jedoch immer nicht zu einer wahren ressource für mich gestalten,
wenigstens nicht in dem grade, wie es seyn könnte, wenn ihr mann oder wenn
sie anders wären, als sie sind. so aber ist es ein beständiges nergeln, ein hin-
und herziehen, wobey die arme gabriele (welche ich täglich höher achten
muß) am meisten leidet, und ich sehe nicht wohl ab, ob und wie dieses anders
werden kann. sie ist die erste tugendhafte frau, der ich in meinem leben in
dieser Weise nahe gekommen bin. meine laufbahn auf diesem gebiethe hat
mit einem tugendhaften mädchen (Auguste horrocks) begonnen und endet
allem Anscheine nach mit einer tugendhaften frau, die aber nicht die meinige
ist, was dazwischen liegt, war lustiges galantes volk, und nur solchem sollte
man sich in dieser Weise nähern. das befriedigendste verhältniß mit einer
ordentlichen frau läßt in ihrem herzen (gerade weil sie ordentlich ist) einen
stachel stecken, der ihr jeden Augenblick der freude verbittert.
ich sitze vormittags täglich ein paar stunden im Bureau der Westbahn
und unterschreibe Actien, ein höchst langweiliges und ermüdendes ge-
schäft, welchem ich mich aber jetzt, da die herausgabe beginnen soll, nicht
entziehen kann. die Angelegenheiten dieser Bahn gehen übrigens einen
ziemlich raschen und geregelten gang, obwohl die statuten, welche mitte
märz vorgelegt wurden, noch immer nicht von seiner majestät genehmigt
sind!!1 um so stürmischer und holpriger geht es dagegen bey der italieni-
1 die statuten erhielten am 21.6.1856, einen tag vor diesem eintrag, die kaiserliche geneh-
migung.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien