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Tagebücher272
ratur, Wissenschaft, kunst, z.B. namentlich für unsere so vernachlässigte
volksbühne.
mir behagt diese Art von thätigkeit, die mir jetzt zu theile geworden,
nicht im mindesten, und ich kann ihr durchaus kein interesse abgewinnen.
Besser als gar keine ist sie allerdings, und sie verschafft mir die materiellen
mittel, andere dinge zu verfolgen, das ist aber auch Alles.
Blittersdorf ist hier, gabrielli sammt gattinn ebenfalls, oder eigentlich in
Baden, diese leute langweilen mich mit ihren Projekten und speculationen
zu tode, namentlich hier, wo nichts, auch die einfachste sache nicht, vom
flecke geht, und wo man, sobald man etwas unternimmt, zwischen lauter
intriguen, rivalitäten und hundsföttereyen wie einen eyertanz tanzen muss.
[Wien] 22. August
ich hatte gestern eine sehr lange conversation mit Bruck in Baden, wo er die
Bäder braucht, was mir insoferne interessant ist, als dadurch die spannung,
welche seit 2 1/2 monaten zwischen uns bestanden hatte (ich hatte ihn seit
6. Juny nicht mehr gesehen), vollkommen ausgeglichen ist, er schien sehr er-
freut zu seyn, dieses constatiren zu können. meinerseits, wenn ich ihn auch
nicht für einen eigentlichen staatsmann und organisator halte und über-
haupt das, was ich von ihm erwartete, nicht gefunden habe, so bin ich doch
überzeugt, daß niemand als er allein in diesem Augenblicke fluß und Be-
wegung bey uns erhalten kann, und daß er, bewußt oder unbewußt, dadurch
auch eine Bewegung auf höherem als dem materiellen felde vorbereitet, und
zwar in einer nicht mehr sehr entfernten Zeit. Alles rührt und regt sich, und
zwar in selbstständiger thätigkeit, frey von der regierung, wenigstens sind
die Anfänge einer solchen emancipation des individuums dadurch gegeben.
die regierung, die staatsmaschine, die Beamten einzeln und zusammenge-
nommen, ja selbst die stellung des kaisers treten immer mehr in den hin-
tergrund, und wie mir scheint, hat der kaiser das Quantum an energie und
Willenskraft, das ihm beschieden war, bereits verpufft und interessirt sich
jetzt nur mehr für seine frau, für gemsen und Auerhähne.
Wodurch mich Bruck gestern hauptsächlich bestach, das war der eifer
und die nahe Aussicht auf erfolg, womit er die Pläne wegen erweiterung der
stadt Wien, welche überhaupt erst zu einer großen stadt gemacht werden
muß, verfolgt, meine lieblingsidee seit 18 Jahren, das ist die wahre centra-
lisation für oesterreich, sicherer und reeller als alle bisherigen centralisati-
onseseleyen Bachs und seiner mitschafsköpfe.
[Wien] 2. september
nach und nach klären sich die geschäfte, in welche ich verwickelt bin, und
treten aus den geburtswehen (welche bey dergleichen dingen immer das
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien