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September 1856
regen, nicht aussprechen kann und immer besorgen muß, dass die Polizey,
d.i. kempen, welcher in derley dingen die beschränktesten corporalsan-
sichten hegt und nebstdem durch einige ähnliche vorgänge, z.B. durch die
ernennung unruh’s zum oberingenieur der franzjosephsbahn,1 aufmerk-
sam gemacht worden ist, mir einen strich durch die rechnung mache. Zum
glücke scheinen die leute bisher diezels nahmen nie gehört zu haben.2 nun
sind aber im verwaltungsrathe selbst die geldmänner hauptsächlich für
Anstellung kaufmännisch gebildeter individuen und die Büreaukraten (wel-
che leider in einer großen Zahl vorhanden sind) für regierungsbeamte, die
masse ministerieller Protektionskinder ungerechnet, für welche namentlich
neuwall (ein auf einen zudringlichen kriechenden Juden gepfropfter kleinli-
cher Büreaukrat) fortwährend lanzen bricht, so daß es Zichy und mir bisher
nicht gelungen ist, diezel durchzubringen. doch haben wir ihn aus eigener
machtvollkommenheit bereits vor fast 14 tagen provisorisch hieher berufen,
und dieses dürfte, hoffe ich, den Ausschlag geben.
nun kömmt aber der weitere umstand dazu, daß diezel gerade jetzt we-
gen eines Preßvergehens auf 4 Wochen in hohenasperg sitzt,3 also nicht vor
12. oder 13. october hier seyn kann. ich muß also da laviren und temporisi-
ren und kann niemandem, nicht einmal Zichy, die ganze Wahrheit sagen,
um diezel nicht zu schaden.
eine merkwürdige und unerwartete combinaton bringt es mit sich, daß
ich als Präsidentenstellvertreter dieser gesellschaft ende october ins vene-
zianische werde abgehen müssen, um den kaiser, welcher mit der kaiserinn
(ihrer gesundheit halber) nach venedig geht, zu empfangen und während
der dauer seines Aufenthaltes in italien zu begleiten, dieser dürfte ungefähr
14 tage dauern, die kaiserinn aber soll mehrere monate bleiben, bey meiner
stellung zum hofe ist das etwas sonderbar, und ich bin neugierig, was sich
1 Es handelte sich um die in Gründung befindliche Kaiser Franz Joseph-Orientbahn (Kon-
zession für die strecken in süd- und Westungarn einschließlich der Bahn durch slawonien
an die serbische grenze erteilt an ein konsortium ungarischer magnaten am 8.10.1856,
die statuten der gesellschaft wurden am 14.2.1857 genehmigt), nicht um die erst ende
1866 konzessionierte kaiser franz Joseph-Bahn Wien-gmünd-Budweis-Pilsen-eger bzw.
gmünd-Prag. der eisenbahningenieur hans viktor v. unruh war von 28.10.1848 bis zur
Auflösung Präsident der preußischen Nationalversammlung und galt öffentlich als mitver-
antwortlich für den steuerverweigerungsbeschluss vom 12. november. „sein name gehörte
zu den politisch übelberüchtigsten“ der 1850er Jahre, heißt es im eintrag der Allgemei-
nen deutschen Biographie (Bd. 39, 312–315). Bereits wenige Wochen nach diesem eintrag
wurde er über druck der Polizeibehörden entlassen, vgl. eintrag v. 22.10.1856.
2 Gustav Diezel war 1848 in die Schweiz geflohen und hatte von dort heftige publizistische
Angriffe gegen die bayerische regierung gerichtet. nach seiner rückkehr wurde er in
Augsburg wegen majestätsbeleidigung zu 18 monaten haft verurteilt.
3 das württembergische staatsgefängnis hohenasperg bei ludwigsburg.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien