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Tagebücher284
und england, doch halte ich eine intime Allianz solange für unmöglich, als
das gegenwärtige system der inneren verwaltung, recte misgovernment, bey
uns fortdauert.
finanziell sind unsere Zustände so verrottet als jemals. Bruck ist am
ende seiner schwindeleyen, und zu höheren dingen hat er sich nie aufge-
schwungen. man spricht jetzt von erhöhung der steuern, das letzte mittel,
unzureichend und gefährlich.
das neue ehegesetz ist erschienen und bildet das tagesgespräch, es ist
ganz dazu gemacht, um die leute in massen zum Protestantismus hinüber
zu treiben, das gebe gott, denn im katholizismus liegt unsere ganze misère.
nebstdem ist das gesetz auch der form und dem style nach ein ganz jäm-
merliches machwerk.1
[Wien] 28. november
ich habe mich in diesen letzten Wochen hauptsächlich mit meinem umzuge
und mit der einrichtung meiner neuen Wohnung beschäftigt, in der ich seit
dem 31. vorigen monats wohne und mich sehr behaglich fühle, die ruhe,
die freye helle, gesunde Aussicht auf Bastey und glacis thun mir unendlich
wohl, übrigens bin ich denn doch froh, jetzt endlich mit allen diesen dingen
fertig geworden zu seyn. meine angeborene ungeduld läßt mir, wenn ich ein-
mal solche dinge angefangen habe, keine ruhe, doch bin ich immer herzlich
froh, wenn das überstanden ist.
vom 4. bis 9. dieses monats war ich in lösch, um noch einmal vor eintritt
des Winters frische landluft einzuathmen, in Brünn hielt ich mich einen
halben tag auf und ließ mir von chlumetzky Bericht über den fortgang der
historischen Arbeiten in mähren erstatten.
Bis zum 23. hatten wir sehr schönes, wenn auch ziemlich kaltes Wetter,
seitdem stürmt, regnet und schneyt es fortwährend, und der Winter ist in
voller scheußlichkeit da.
gabrielle ist allein hier zurückgeblieben, nachdem ihr ganzes haus vor 8
tagen nach ofen in die Winterquartiere gegangen ist. christiane Belcredi
war durch einige tage hier.
gabriele neuwall ist seit 17. wieder hier eingerückt, ich sehe sie oft des
vormittags und ebenso Abends, indem sie es endlich dahin gebracht hat,
jeden zweyten Abend zuhause leute sehen zu dürfen, im verflossenen Jahre
hatte sie dieses nicht erlangen können.
1 das neue ehegesetz, womit entsprechend den Bestimmungen des konkordats die ehean-
gelegenheiten der katholiken von den staatlichen an die kirchlichen gerichte übertragen
wurden, erschien als kaiserliches Patent v. 14.10.1856 am 25. oktober. es trat mit 1.1.1857
in kraft.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien