Page - 291 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Volume III
Image of the Page - 291 -
Text of the Page - 291 -
29119.
Dezember 1856
seyn wird, geschehen. die sache ist überhaupt nicht leicht, denn wir sind
entsetzlich arm an leuten, welche in irgend einer richtung bedeutend seyn
und dabey lust und gewohnheit haben, einen anständigen salon, wo nicht
gekneipt wird, zu besuchen, und von diesen Wenigen lassen sich die meisten
durch allerley rücksichten, rivalitäten, Abneigungen, meinungsverschie-
denheiten etc. abhalten. in diesem so wie beynahe in Allem übrigen herrscht
hier eine unglaubliche spießbürgerlichkeit.
manchen Abend bringe ich, oft und am liebsten ganz allein, bey meiner
guten und schönen gabriele neuwall zu, welche für diesen Winter an al-
len geraden Abenden zuhause ist. mein verhältniß zu ihr scheint jetzt erst
ein recht angenehmes und wohlthuendes werden zu sollen, indem, wie ich
hoffe, ihre häuslichen stürme nunmehr überstanden seyn dürften. möge es
so bleiben. sie ist für mich eine wahre Wohlthat, Beruhigung und Anregung
zugleich, mein Plätzchen zum Ausruhen von so manchen großen und kleinen
fabulationen, je ruhiger und fester sich die Äußerlichkeiten unseres ver-
hältnisses gestalten, desto mehr fühle ich dieses.
ich gehe zuweilen des Abends zu seymour, deren salon diesen Winter die
vogue zu haben verspricht, das ist der einzige salon der großen Welt, den
ich besuche, doch will ich nächstens mich auch in dem des grafen Buol zei-
gen, da ich demselben neulich bey seymour begegnete, und er mir besonders
freundlich entgegenkam, ich will aber nicht den Anschein haben, als ob ich
mich geflissentlich von ihm zurückziehe.
mevissen aus cöln war neulich hier und bey einer meiner donnerstagssoi-
réen bey mir.
viel neues am politischen horizonte gibt es nicht, ausgenommen daß
durch den englisch-persischen krieg1 wieder ein gährungsstoff mehr in die
europäischen Angelegenheiten geworfen worden ist. vielleicht werden die
Pariser conferenzen einige dieser Wolken entfernen.2 Bey uns gewinnt die
Allianz mit england nach und nach an terrain, während die spannung mit
rußland zunimmt. Budberg war neulich bey mir, er scheint sehr preußisch
zu seyn, was auch sehr erklärlich ist. der kaiser scheint in venedig, wo er
1 nachdem Persien das von ihm beanspruchte westafghanische herat besetzt hatte, erklärte
großbritannien am 1.11.1856 den krieg. im frieden vom 4.3.1857 musste Persien der räu-
mung von Herat zustimmen und in allen zukünftigen Konflikten um Herat und Afghanis-
tan eine britische vermittlung akzeptieren.
2 um die streitigkeiten über die grenzziehung zwischen russland und der türkei am do-
naudelta zu klären, mit der die frage des Abzugs der österreichischen truppen aus den
fürstentümern und der britischen flotte aus dem schwarzen meer verbunden war, wurde
die Pariser friedenskonferenz für den 6.1.1857 neuerlich einberufen. england stimmte
dem jedoch erst zu, als feststand, dass durch eine koalition mit österreich, der türkei und
sardinien-Piemont die russischen forderungen abgelehnt würden.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien