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30330.
März 1857
[Wien] 30. märz
seit einigen tagen ist es frühling geworden, ich habe dießmahl meinen tri-
but der Jahreszeit mehr als sonst entrichten müssen. schwindel, congestio-
nen zum kopfe, wohl als Wirkung der hämorrhoiden, stellten sich dießmahl
so heftig ein, dass sie mit einem starken erbrechen begleitet waren und
mich durch ein paar tage zwangen, zuhause zu bleiben. Jetzt bessern sich
diese Zustände, aber nur allmälig, und ich muß noch immer sehr sorgfäl-
tig auf diät, Bewegung etc. achten. Am besten thäte eine luftveränderung,
wie ich überhaupt das lange stillesitzen sowohl physisch als moralisch nicht
vertrage, leider ist dieses jetzt vor der hand nicht möglich, da ich feri Zichy
bey der italienischen eisenbahngesellschaft vertreten muß. dieser trat vor
ungefähr 10 tagen seine reise nach italien an, auf der er circa einen monath
zubringen wollte. vorgestern kam er nun ganz unerwartet zurück, indem er
zum obersthofmeister des erzherzogs ferdinand max ernannt worden ist
und schon am 5. definitiv nach venedig abgehen muß, um den erzherzog
bey seinem einzuge nach mailand zu begleiten. Auf den ausdrücklichen Be-
fehl des kaisers behält er die Präsidentschaft der italienischen eisenbahn-
gesellschaft bey, und diese ohnehin so barokk organisirte gesellschaft wird
nun eine Anomalie mehr darbiethen, das objekt, nämlich die Bahnen, in
italien, der sitz des verwaltungsrathes hier, und dessen Präsident in ita-
lien. es wird nun eine Art der organisation ausgedacht werden müssen,
um diese Widersprüche soviel als möglich auszugleichen, und darüber wer-
den wir nun in diesen tagen zu verhandeln haben, welchen einfluß dieses
auf meine persönliche stellung in der gesellschaft haben wird, vermag ich
noch nicht zu beurtheilen. ein sehr lebhaftes interesse hat diese sache für
mich nicht mehr, der ganze Wirkungskreis des verwaltungsrathes ist ein
sehr beschränkter, und von diesem fällt der bey weitem größte theil dem
Präsidenten zu und muß ihm bey der eigenthümlichen Zusammensetzung
der gesellschaft zufallen, bey den beständigen chikanen und oppositions-
gelüsten der italienischen verwaltungsräthe musste die organisation eine
sehr monarchische seyn, und f. Zichy ist nicht der mann, seine gewalt aus
den händen zu geben, und thut sehr wohl daran. Aber selbst wenn er es
wollte, so fühle ich, daß meine eigenthümliche stellung zum hofe und zur
regierung es mir sehr schwer machen würde, ihn vollkommen zu ersetzen.
ich werde daher nur darauf zu achten haben, meiner persönlichen stellung
nicht zu vergeben.
der Wanderer hebt sich nach und nach, und zwar sowohl in haltung als
in materieller hinsicht, aber die schwierigkeiten und nergeleyen sind zahl-
los, ich schreibe öfters selbst Artikel für das Blatt, und hie und da kommen
mir auch welche auf meine Anregung zu. mein Augenmerk geht jetzt vor-
züglich dahin, den grundbesitz heranzuziehen durch Besprechung seiner
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien