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Tagebücher310
hat er sich so wohl verschanzt, und ist der verwaltungsrath so zusammenge-
setzt, daß ich es ganz aufgegeben habe, etwas dagegen zu thun. nun hat er
sich gar von merck, oppenheim und den anderen Börsejuden ins schlepptau
nehmen lassen und will die linie linz-Passau fahren lassen, respective von
der regierung davon enthoben werden, wogegen ich mich übrigens ganz ka-
tegorisch ausgesprochen habe, es ist unglaublich, wie kurzsichtig und unwis-
send der gute mann ist.
An der Börse herrscht eine vollständige Panique, die neuen Bahnpapiere
wollen sämtlich unter pari gehen, und Bruck hat trotz der vielen frühern
erfahrungen namentlich aus kübecks Zeit 1847 das fehlerhafte system, sie
halten zu wollen, woran sich die creditanstalt verbluten muß, auch fallen
die Actien derselben ungeheuer, und die verluste namentlich des ärmeren
Publicums sind unberechenbar. Wir gehen einer furchtbaren crisis entge-
gen.
morgen beginnt die zweyte landwirthschaftliche Ausstellung unter un-
geheuerem Zulaufe und großer theilnahme aller klassen und Provinzen,
ja selbst des Auslandes. Auch das ist ein bedeutendes ereigniß, wie denn
überhaupt die politischen ideen und unbehaglichkeiten wieder mehr raum
gewinnen, nachdem sie durch mehr als ein Jahr über lauter speculation
und mammon beynahe vergessen worden waren. der kaiser ist in ofen und
führt dort humbug no 2 auf, unter momentanem geschrey und bezahltem
oder erpreßtem Beyfall, aber mit noch weniger dauernden resultaten als
selbst in italien, die leute wollen eben keinen stein, sondern Brod.
[Wien] 23. may
die landwirthschaftliche Ausstellung, welche am 9. begann und vor einigen
tagen geschlossen wurde, ist nicht nur das ereigniß der letzten tage, son-
dern vielleicht das bedeutsamste seit Jahren gewesen. sie war an mannig-
faltigkeit und schönheit der ausgestellten gegenstände und an geschmack-
vollem Arrangement außerordentlich gelungen, zudem vom schönsten
Wetter begünstigt. massen von fremden aus den Provinzen und dem Aus-
lande waren herbeygeströmt, und die Wiener liefen schaarenweise in den
Augarten hinaus. es ist seitdem eine wahre modesache geworden, von land-
wirthschaft, viehzucht, maschinen etc. zu sprechen. die österreichische ur-
production im weitesten sinne hat sich in einem überraschend glänzenden
lichte gezeigt.
neben der eigentlichen Ausstellung aber hatten die öffentlichen und die
sectionsversammlungen hohe Bedeutung, es wurden in denselben nicht nur
specifisch landwirthschaftliche fragen, sondern auch solche von allgemei-
nem politischen interesse (die sich einmal von jenen nicht trennen lassen)
mit freymuth, klarheit und verständniß verhandelt und mit solcher Auf-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien