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3134.
Juni 1857
eine Petition um Wiederherstellung der integrität des landes, der nationa-
len (d.i. von ungarischen Beamten, wenn auch nach büreaukratischem sy-
steme!! geführten) verwaltung und der Wiedereinführung der ungarischen
sprache in schule und gerichten. diese Petition, von 150 Bischöfen, ma-
gnaten, Bürgern etc. unterschrieben, sollte durch den Primas dem kaiser
übergeben werden. doch ließ sich dieser durch erzherzog Albrecht (der übri-
gens mit den Altkonservativen sympathisirt und lamentirt, überhaupt eine
höchst schwache rolle spielt) davon abhalten. nun sollte georg Apponyi sie
überreichen, doch verweigerte der kaiser die Annahme, und so stehen die
dinge jetzt. Jedenfalls muß dieser vorfall verbunden mit dem, was zur sel-
ben Zeit in Wien vorging, dem kaiser soviel zeigen, daß die unhaltbarkeit
dieses todten und geistlosen, noch dazu an sich schlechten regierungsme-
chanismus von allen seiten hereinbricht, und daß nur dort stillschweigen
herrscht, wo unversöhnlicher haß, nämlich in italien. die ungarn aber ha-
ben wieder gezeigt, daß sie sich über die kleinstädterey und den Provincia-
lismus nicht zu erheben im stande sind, daher keine sympathieen zu erwek-
ken vermögen, also der regierung nicht furchtbar sind.
[Wien] 4. Juny
meine beyden generalversammlungen und die damit verbundene außer-
ordentliche geschäftsanhäufung sind nunmehr glücklich vorüber. Bey der
Westbahn nicht ohne stürme, welche zum theile eine folge des uns aufge-
drungenen unglücklichen Planes der verminderung des Actiencapitales um
15 millionen, zum theile des beyspiellos ungeschickten Benehmens Wicken-
burgs waren. Bey dieser gelegenheit kam auch die nothwendigkeit einer
reform unserer geschäftsbehandlung zur sprache, und merck agitirte sehr
lebhaft in diesem sinne. einiges wurde trotz Wickenburgs Bitten und Jam-
mern durchgesetzt, was aber ziemlich ungenügend seyn dürfte. das einzige
wirksame mittel wäre die Bestellung eines generaldirectors, dazu aber fehlt
uns erstens die geeignete Persönlichkeit, dann aber dem verwaltungsrathe,
wie er einmahl zusammengesetzt ist, die gehörige energie, um diese maßre-
gel gegen Wickenburgs Widerstand durchzusetzen.
desto besser und befriedigender hingegen ging es in der italienischen ge-
sellschaft ab, wo ich die generalversammlung abhielt, und alle unsere An-
träge per acclamationem angenommen wurden, die auswärtigen mitglieder
sind sämmtlich wieder abgereist, der Abschluß wegen der triester linie ist
bis zum herbste vertagt, indem Bruck erklärte, der kaiser wolle noch die er-
öffnung ende July selbst vornehmen, er will wohl eine concurrenz bereiten
und nicht zu viel empressement zeigen.
die kaiserliche reise in ungarn (welche immer in gleicher Weise, d.h.
anständig aber sehr kühl vor sich gegangen war) ist zu einem unerwarte-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien