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Juli 1857
die rohe gewalt einer- und die blinde Angst andererseits waren zu mächtig,
aber jetzt hören diese beyden factoren zu wirken auf, und das system ge-
räth ins Wanken. Bruck wankt und verliert terrain, weil er seine Aufgabe
nicht hoch genug aufgefaßt hat, und von den Andern ist ohnehin nichts zu
erwarten. Aber die schwierigkeit liegt noch immer in der indolenz und Zer-
fahrenheit der leute und namentlich derjenigen, welche sich zunächst für
einen systemwechsel interessiren sollten, nämlich meiner standesgenossen.
Zudem sind die dinge in oesterreich auf einen Punkt gekommen, wo sich
nur von oben herab durch souveräne machtvollkommenheit eine neue ord-
nung einführen läßt, welche im Anfange niemanden ganz befriedigen wird,
es läßt sich daher ein solches Programm nicht auf die fahnen einer opposi-
tion schreiben, selbst wenn diese die bestgeschulte wäre.
ich mache so eben die erfahrung von dieser beyspiellosen Passivität mei-
ner sogenannten freunde, und zwar bey den verhandlungen wegen der er-
werbung des „Wanderers“. Alle ohne Ausnahme, selbst die, auf welche ich
unter allen umständen zählen zu können glaubte, lassen mich im stiche.
das Blatt für mich allein zu kaufen, dazu reichen meine kräfte nicht hin,
und ich habe durchaus keine lust, mit grass in ein gesellschaftsverhält-
niß zu treten, der mann ist nicht nur unglaublich unbedeutend, sondern hat
nebstdem gewisse politische Ansichten (oder eigentlicher unklare sympa-
thieen), an denen er mit einer gewissen Zähigkeit festhält, und die mir höch-
lichst zuwider sind.
die stadt ist leer, langweilig und heiß, neulich brachte das theresien-
ordensjubiläum eine kurze Abwechslung,1 es war ein ziemlich gelungenes
fest, nur hätte ich es etwas nationaler gehalten gewünscht. solange das
volk an dem militärischen ruhme der Armée keinen lebhaften Antheil
nimmt, wird diese letztere immer in der luft stehen.
Baden 9. July
seit 1. dieses monats bin ich hier, wo ich ein Absteigquartier in der redoute
gemiethet habe. da ich meiner geschäfte wegen vor Anfang August nicht
wegkommen kann, so wollte ich mich bis dahin aus der unerträglichen stadt
entfernen. ich fahre nun 2, auch 3mal in der Woche nach Wien und lasse
mir auch sonst dringende sachen herausschicken. hier führe ich übrigens
ein sehr einförmiges und ziemlich einsames leben, das mir jedoch sehr be-
hagt, bin den ganzen tag in der freyen luft, ohne viel Promenaden zu ma-
chen, was überhaupt meine sache nicht ist, gehe jedoch fast täglich einmal
in die Weilburg zu gabrielle. sonst habe ich sehr wenig umgang, beynahe
1 die 100-Jahr-feier des militärischen maria theresien-ordens. Als gründungsdatum galt
der 18.6.1757, der tag der schlacht von kolin.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien