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Tagebücher316
gar keinen, einige ziemlich langweilige alte herren: lichtenberg, Baptiste
Batthyany, somsich, mocenigo und dgl. Bruck habe ich ein paarmale be-
sucht, ebenso toni szécsén. Was ich hier hauptsächlich suche und finde, ist
frische luft, grüne Bäume, und aus dem ewigen einerley uninteressanter
geschäfte und fataler supplicanten loszukommen.
gabriele neuwall reiste am 30. nach franzensbad ab, und damit war das
einzige verschwunden, was mich noch an Wien gefesselt hatte. ende dieses
monats gedenke ich die eröffnungsfahrt der triester eisenbahn mitzuma-
chen und dann Anfangs August in irgend ein seebad zu gehen, was mir mein
Arzt als zuträglich empfohlen hat, in welches? weiß ich noch nicht, doch
denke ich, 2 monathe auszubleiben. leider weiß ich gar nichts, was meine
neugierde oder reiselust reizen könnte.
von Pepi eötvös habe ich, seit ich in Pesth gewesen, nichts mehr gehört,
obwol ich ihm eigens schrieb, um ihm meinen Aufenthalt in Baden mitzu-
theilen, es thäte mir sehr leid, wenn ich ihn verfehlen sollte.
Bey dem Wanderer hoffe ich doch, endlich die sache ins reine zu bringen
und vollkommen herr des Blattes zu werden, dann handelt es sich nur mehr
darum, einen ganz tüchtigen redacteur zu finden, am besten diezel wieder
hereinzubringen. dazu habe ich einige einleitende schritte gethan, mit wel-
chem erfolge? wird sich zeigen. ohne Zweifel ist es jetzt schwerer als vor ei-
nem Jahre. einstweilen ist und bleibt der Wanderer exemplarisch langweilig.
neues gibt es bey uns nicht viel. Bruck dreht und windet sich, um die zu-
nehmende finanzconfusion zu flicken oder hinauszuschieben, ist aber längst
nicht mehr im stande zu helfen, sondern läßt, wie ich höre, in der stille neue
staatsschuldscheine mit alten unterschriften (kübecks etc.) verkaufen! das
kann auf ein paar monathe helfen. man spricht wiederholt davon, daß er
seine entlassung begehrt habe. das ganze staatsgebäude schwankt und
wankt rathlos, hülflos, ohne consequenz, und ohne ein centrum und einen
schwerpunkt zu haben, hin und her. die absolute gewalt ist eben nur dort
möglich, wo ein wirklicher souverain, nicht ein bloßes mannequin, existirt.
vor dem märz [1848] lag wenigstens in dem herkommen und dem scrupulö-
sen festhalten an demselben eine Art von schwerpunkt.
im Auslande gab es in letzter Zeit wenn auch keine sehr bedeutenden,
doch immerhin solche Begebenheiten, welche von einer tief unter der ruhi-
gen oberfläche gehenden strömung zeugen, so die Wahlen in Paris, die un-
ruhen in italien, die antikirchliche Bewegung in Belgien und der unselige
dänischdeutsche streit.
[Baden] 20. July
da ich jetzt sowohl in der Westbahn als bey der lombardischen gesellschaft
das Präsidium führe (bey ersterer seit ungefähr 6 Wochen, bey letzterer
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien