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32917.
September 1857
hier nicht länger ausgehalten, so ganz allein, dazu kömmt, daß es hier schon
recht herbstlich rauh und regnerisch ist, und ich hier keine bekannte seele
habe.
Paris 17. september
in der letzten nacht und am darauf folgenden tage in Boulogne goß der re-
gen in strömen, und war das Wetter überhaupt so stürmisch, daß ich nicht
mehr baden konnte. gegen 12 uhr fuhr ich ab, das land war bis auf mehrere
stationen weit und breit unter Wasser. um 6 uhr nachmittag war ich hier.
da ich hier mit Ausnahme einiger commissionen und einkäufe eigentlich
nichts zu thun hatte, so konnte ich um so mehr meine ganze Zeit meiner ge-
liebten gabriele widmen, was ich auch mit der einzigen Beschränkung, wel-
che mir die rücksicht auf ihre Begleitung und auf ihre Angehörigen in Wien
auferlegte, in diesen tagen gethan habe. Bekannte habe ich mit wenigen
Ausnahmen weder aufgesucht noch getroffen, dagegen habe ich mit gabriele
Wanderungen in die entfernteren theile von Paris angestellt, welche ihr bis-
her nur dem nahmen nach bekannt waren, und die sie doch lebhaft inter-
essirten. Abends bin ich ein paarmal mit ihr und ihrer cousine im theater
gewesen, oder gingen wir auf den Boulevards spatzieren. gestern führte ich
sie in die champs elysées in einige der cafés chantants, lauter dinge, die
ihr neu waren.
hübner ist abwesend, lord cowley in chantilly, diesen letzteren hätte
ich gerne gesehen, und suchte ich an dem einzigen tage, an welchem er (seit
mehr als 14 tagen! ich begreife nicht, wie die leute ihre geschäfte betrei-
ben) in der stadt war, zweymal vergebens auf, schreiben oder mir sonst eine
stunde geben lassen, wollte ich nicht, pour ne pas donner de l’importance à
notre conversation, die ich doch sehr gerne mit ihm gehabt hätte. ein diplo-
mat sollte nie schwer zugänglich seyn.
die Zusammenkunft der kaiser von rußland und von frankreich in
stuttgart ist nunmehr eine ausgemachte sache, auf jeden fall ein memento
für uns.1 die lage in den donaufürstenthümern ist auch eine solche, daß ich
daraus nicht recht klug werden kann. ist die union von unserer seite wirk-
lich zugegeben? das wolle gott verhüten, es wäre unverantwortlich. rußland
drängt mit aller energie darauf hin, und frankreich will rußland gefällig
seyn. ich fürchte immer, man wird einen mezzo termine ausfindig machen,
welcher den russen im Wesentlichen gewonnenes spiel geben wird. Wir ste-
hen ganz allein, das ist die folge unserer jämmerlichen Politik.
1 Zar Alexander ii. und kaiser napoleon iii. trafen sich von 25.–28.9.1857 in stuttgart (der
württembergische thronfolger war ein schwager des Zaren), am 1. oktober fand in Weimar
eine Begenung zwischen dem Zar und kaiser franz Joseph statt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien