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Tagebücher342
meine vorjährigen donnerstagssoiréen habe ich bis jetzt noch nicht wie-
der aufgenommen, ich sehe rund um mich her nicht die gehörige stimmung,
die Zeiten sind zu ernst und die menschen zu bewegt, um Politiker und ge-
lehrte, oder um Politiker verschiedener farben durcheinander mischen zu
können, und der Zweck, der mir allerdings sehr am herzen liegt, einzelne
ungarn und einzelne österreicher einander näher zu bringen und aus Jenen
einen kern zu recrutiren, welcher über ihrer provinziellen kirchthurmpoli-
tik stehen würde, dieser Zweck läßt sich hier deßhalb nicht verfolgen, weil
die wenigen ungarn von einiger Bedeutung, die hier leben, Altconservative
der entschiedensten beschränktesten und erbittertsten gattung sind, mit
denen eine verständigung absolut unmöglich ist.
meine italienischen reiseprojekte sind zusammengeschrumpft, und ich
denke nun, Anfangs februar auf einige Wochen nach venedig zu gehen.
ich habe so eben mein tagebuch aus dem Jahre 1848 nach beynahe zehn
Jahren wieder einmahl durchgelesen, mit gemischten empfindungen, un-
ter diesen vorherrschend das gefühl meiner damaligen politischen unreife,
welche freylich noch viel geringer war, und von der ich mich schneller er-
holte als die meisten, wo nicht alle dermaligen faiseurs bey uns, es war eben
der fluch der Periode des kaiser franz und fürsten metternich, deren kind
ich war, und in welcher nicht nur das Wissen, sondern auch der ernst, der
charakter und die gewohnheit, sich mit ernsten dingen zu beschäftigen,
immer mehr verschwand, so kam es, daß ich, obwohl einer der führer, mit
34 Jahren ungefähr da stand, wo in england ein Jüngling steht, der eben
aus der schule tritt, die ständische Bewegung war eine vorschule, die im
laufe der Zeit (und sie war auf Jahre hinaus angelegt, und wir selbst, die
führer, glaubten, noch Jahre und Jahre vor uns zu haben) sehr viel nützli-
ches geleistet hätte, so aber wurden wir in den ersten Anfängen durch das
Jahr 1848 überrascht. es ist allerdings leicht, zehn Jahre nach den ereig-
nissen zu sagen, was man hätte thun, wie man sie hätte auffassen sollen.
der hauptirrthum lag darin, die märzrevolution für etwas Abgeschlosse-
nes, fertiges, nicht mehr rückgängig zu machendes zu halten, wie ich dieses
von Anfang an that, und selbst lange später, als die überstürzungen immer
anwuchsen, dieselbe noch immer als dasjenige ansah, hinter welche nicht
zurückgegangen werden könne. freylich hatte man es damals noch nicht er-
lebt und keine Ahnung davon, wie weit der umschlag der öffentlichen mei-
nung und die reaction der Angst gehen könne. ungarn hatte damals seine
constitution, seinen reichstag, an eine einheit im jetzigen sinne war daher
nicht zu denken, und Alles, was ich wünschte und beabsichtigte, war ein
vereinigter Ausschuß des ungarischen und des deutschslavischen landtages
für gewisse, speciell bestimmte gemeinschaftliche reichssachen. Wenn ich
mich daher am 16. märz über die von den ungarn ertrotzten concessionen
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien