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Tagebücher352
scheint, als ob er den kopf ganz verloren hätte, daß, wenn das Attentat ge-
lungen wäre, Aufstandsversuche und erschütterungen in manchen theilen
europas und namentlich in italien vorgekommen wären, leidet keinen Zwei-
fel, und man behauptet jetzt, daß hier und anderwärts für diesen fall ver-
bindungen angeknüpft waren etc. Alles dieses versteht sich von selbst und
wußte man schon längst, so lange es emigranten und violente regierungen
gibt, wird eine revolutionäre Propaganda immer bestehen. das ist aber kein
grund, um solche repressivgesetze und polizeyliche maßregeln zu ergreifen,
wie es jetzt in frankreich geschieht, dadurch führt man nur um so gewisser
eine revolution herbey.
mailand 25. februar
Am 21. um 5 uhr nachmittag verließ ich venedig und übernachtete frierend
und zähneklappernd trotz aller heizversuche alle due torri in verona. tags
darauf kam director Busche, um mich nach dem Bahnhofe zu führen, wo wir
in Begleitung des maschinen-oberingenieurs Bippert die Ateliers der gesell-
schaft und die große Wagenfabrik in Augenschein nahmen, welche beyden
etablissements mich sehr befriedigten. um 11 fuhr ich weiter und war gegen
5 nachmittag hier, wo ich im marino abstieg.
hier ist das Wetter noch rauher und kälter als in venedig, wenn auch
heiter und schön, doch machte es heute miene schneyen zu wollen. das Ärg-
ste aber ist, daß ich mich trotz ganzer ladungen holz, welche ich in das
elende öfchen werfe, durchaus nicht erwärmen kann. dazu kömmt, daß ich
eine offene frostbeule am fuße habe, welche mich im gehen gênirt trotz der
ältesten weitesten und schlechtmöglichsten stiefel. endlich habe ich auch
noch Zahnschmerzen, welche mich besonders bey nacht foltern. Alles dieses
zusammen demoralisirte mich namentlich in den ersten tagen bedeutend.
Jetzt scheint sich das nach und nach geben zu wollen. doch soll der teu-
fel einen solchen italienischen Winter holen. man sollte eigentlich minde-
stens nach rom gehen, wenn man dem nordischen Winter entgehen will.
hier zu lande leidet man mehr als bey uns und hat auch die geselligen ent-
schädigungen nicht wie weiter im süden. mailand hat keine fremden und
überhaupt keine gesellschaft, in venedig praedominirt das Wiener element
entschieden, und dieses hat wenigstens für einen Wiener nichts neues oder
Anziehendes.
mailand, seit jeher eine der schönsten und freundlichsten städte, hat sich
seit den 13 Jahren, als ich es nicht gesehen, noch bedeutend verschönert,
an jeder straßenecke, beynahe bey jedem hause fielen mir längst verges-
sene détails ein und nebst andern tausend erinnerungen in mir, verändert
hat sich im ganzen äußerlich doch nur sehr wenig, und so begegne ich je-
den Augenblick bekannten menschen und gegenständen. dennoch hat das
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien