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Die Gleichsetzung von Musizieren mit Bettelei und Nicht- Arbeit war aber nicht
nur die Perspektive mancher Verwaltungsbehörden auf AntragsstellerInnen. Auch
in zeitgenössischen Wiener Zeitungsberichten über StraßenmusikantInnen waren
Klagen über das Musizieren – also die Nicht- Arbeit – eigentlich arbeitsfähiger
junger Menschen häufig.105 In den Berichten über verschiedene Formen des Musi-
zierens wurde fast immer entlang der Kategorien des/der ‚guten‘ arbeitsunfähigen
und daher auch lizenzierten Musizierenden und des/der ‚schlechten‘ arbeitsscheuen
und „schwarzspielenden“ Musizierenden unterschieden.106 Während der/die ‚gute‘
Musizierende traditionsgemäß durch den Wiener Werkelmann oder den/die Volks-
sängerIn verkörpert wurde, stellten Jazzkapellen oder andere Darbietungsformen
moderner Musik den anderen Musiziertypus dar. Der Erwerb des Straßenmusizie-
rens mochte also als redlich oder als unredlich betrachtet werden, Arbeit war er aus
dieser Perspektive in keinem Fall, wie schon die Annahme zeigt, dass er entweder
durch „Arbeitsscheue“ oder „Arbeitsunfähige“ ausgeübt wurde. Unklar bleibt, ob es
die angenommene fehlende Anstrengung des Straßenmusizierens oder der fehlende
Gegenwert 107 für PassantInnen war, der es zur Nicht- Arbeit machte.
Dass in Bezug auf manche Musizierformen Nicht- Arbeit breit thematisiert wurde,
zeigt auch ein Urteil des Obersten Gerichtshofes von 1921, das hier etwas ausführ-
licher beschrieben werden soll. Zwei in Eisenbahnzügen musizierende Männer wur-
den wegen Bettelns nach §2 des Gesetzes über die Zulässigkeit der Anhaltung in
Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten 108 angeklagt. Nachdem das Erstgericht die
Angeklagten freigesprochen hatte, erkannte das Berufungsgericht die Angeklagten
105 „Eine besondere Art der Bettelei stellt auch das Musizieren dar […] Ganze Gruppen bis
zu zehn und mehr Personen finden sich zu Jazzkapellen zusammen und geben ‚Platzkon-
zerte‘.
[…] Ihnen allen soll in der nächsten Zeit
[…] an den Leib gerückt werden. Polizei und
Fürsorgetätigkeit wollen mit dem Wiener Bettlerunwesen aufräumen.“ (Neue Freie Presse
vom 3. April 1937, 1).
106 Exemplarisch etwa folgende Passage: „Auch die Bettelmusikanten […] führen Beschwerde,
daß ihnen von arbeitsscheuen Individuen das Almosen weggeschnappt werde
[…] Ein eigen-
artiger Fall: in der Musikstadt Wien, der Stadt der Lieder, müssen ein paar arme Teufel fragen,
unter welchen Bedingungen sie in bescheidener Weise Musik machen dürfen.“ (Illustriertes
Wiener Extrablatt (1925), 1. Mai, 6).
107 Vgl. auch Oesterreichische Musiker- Zeitung (1920), Nr.
4, 56: „Von allen Arbeitnehmergrup-
pen […] sind die […] Musiker am schlechtesten daran. Beweis: Weil man ihren Beruf – von
klassischer und Theatermusik abgesehen
–
[…] als etwas Überflüssiges, Entbehrliches bezeich-
net
[…] Das ist nämlich der Standpunkt jener Leute, die es einem Musiker
[…] nicht verzeihen
können, dass er in seinem Beruf so unproduktiv ist, also nur wertlose Musik […] macht.“
108 Gesetz vom 24. Mai 1885, BGBl Nr. 89, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der
Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten getroffen werden,
§2.
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Title
- Über die Produktion von Tönen
- Subtitle
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Author
- Georg Schinko
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 310
- Keywords
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Category
- Kunst und Kultur