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für schuldig, da ihnen „das fast tägliche und erwerbsmäßige Musizieren nur Mittel
zum Zweck gewesen sei, um ihren Bettel zu decken. […] Den Angeklagten sei es
gar nicht darum zu tun gewesen, den Reisenden ein Vergnügen zu bieten.“ 109 Im
Gegensatz dazu hob der Oberste Gerichtshof das Urteil auf und bestätigte den Frei-
spruch. In der Begründung wurde angeführt:
Daß der Erwerb der Angeklagten im Betteln bestand, läßt sich deshalb nicht behaup-
ten, weil die Angeklagten durch ihr Musizieren eine, wenn auch bescheidene Leistung
geboten haben, die ihnen durch die Gaben der Mitreisenden entlohnt wurde. Es handelt
sich somit um eine Veranstaltung gegen freiwilliges Entgelt, die auch auf ihrer untersten
Stufe nicht mit Betteln verwechselt werden kann.
[…] Der Annahme einer Arbeitsscheu
steht der Umstand entgegen, daß die Angeklagten eine Arbeit verrichtet haben, nämlich
das Musizieren.110
Während der Oberste Gerichtshof also im Gegensatz zum ersten Berufungsgericht,
aber auch im Gegensatz zu anderen Akteuren der Zwischenkriegszeit den Arbeits-
charakter dieses Musizierens bejahte, nahm er in seiner Begründung wiederum auf
eine Arbeitsdefinition Bezug, die Arbeit vor allem durch den Gegenwert für die
‚KonsumentInnen‘ charakterisierte und die in negativer Form bereits in den Aus-
einandersetzungen um das Bettelmusizieren auftauchte. In der Urteilsbegründung
wurde weiters festgehalten, dass Bettelmusizieren schon allein deshalb nicht Bettelei
sein könne, da es staatliche Lizenzen dafür gäbe, wohingegen Betteln laut Land-
streichergesetz von 1873 verboten war.
Die Frage nach dem Arbeitscharakter von Straßen- oder Bettelmusizieren wurde
in der Zwischenkriegszeit noch durch die Zunahme jener Personen verschärft,
die diese Musizierformen betrieben. Die aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehr-
ten Kriegsinvaliden wurden bei der Erteilung von Bettelmusiklizenzen bevorzugt
behandelt, während ‚einfache‘ Invalidität oftmals nicht mehr berücksichtigt wurde.
Für jene, die in Armut lebten, war Musizieren jedoch oftmals eine von wenigen
Möglichkeiten, etwas Verdienst zu erlangen.111 Während der Großteil der aus Not
Musizierenden versuchte, sich mit den Behörden zu arrangieren oder sie zu meiden,
109 Österreichischer Oberster Gerichtshof (Hg.), Entscheidungen, 99.
110 Ebd.
111 „An allen Ecken hörst du die Not singen, fiedeln, blasen, trommeln […] Leute sind es, die
mitten im Wochentag feiern müssen. Dünn der abgetragene Rock, schlecht die Schuhe, der
Nässe, der Kälte, dem Winde zum Trotz.“ (Die Unzufriedene (1932), Nr. 2, 1) Vgl. für ähn-
liche Beschreibungen etwa Oesterreichische Musiker- Zeitung (1894), Nr. 22, 97 – 98; Öster-
reichische Musiker- Zeitung (1931), Nr. 3, 18; Der Stempler (1932), Nr. 1, 3.
Differenzierungen und Konflikte 1918 – 1938 45
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Title
- Über die Produktion von Tönen
- Subtitle
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Author
- Georg Schinko
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 310
- Keywords
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Category
- Kunst und Kultur