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Die Konflikte um Ansprüche auf Positionen machten nicht nur Verteilungen von
Macht und Ressourcen sichtbar, sondern produzierten darüber hinaus auch (legitime
und weniger legitime) zeitgenössische Perspektiven auf die Welt selbst, mit anderen
Worten: Sie produzierten historische Realität.
Als Gegenperspektive zur oben dargestellten naiven Verwendung lebensgeschicht-
licher Erzählungen hat sich die Ansicht herausgebildet, dass diese
– da sie vollständig
konstruiert wären
– als Quelle für Forschungen nur sehr eingeschränkt verwendet
werden könnten. „In their extreme variations such theoretical approaches denied any
possibility of gaining access to a historical subject […] and indeed suggested that
there was no qualitative difference between literary fiction and historical narrative.“ 25
In einer etwas abgeschwächten Perspektive werden lebensgeschichtliche Erzäh-
lungen immerhin noch als fruchtbar für die Untersuchung historischen Wandels
von Erzählpraktiken, Subjektivität, Identität etc. gesehen, wenn auch nicht für die
Untersuchung der in den Erzählungen vorkommenden Themen.26 Dem muss ent-
gegengehalten werden, dass auch dann, wenn Erzählungen nicht als Ansammlung
‚objektiv wahrer‘ Erlebnisse gesehen werden,
– was in der Tat naiv wäre
–, die darin
enthaltenen Aussagen und Strukturierungen dennoch in Bezug zu Phänomenen
des Erlebniszeitpunktes stehen. Erzählungen sind konstruiert, aber ihre Konstruk-
tion erfolgt nicht zufällig. Die Ausprägungen ihrer Aussagen und Strukturierungen
sind nicht nur individuell erklärbar, sondern verweisen auf kollektive Phänomene.
So verrät etwa bereits die Bezeichnung musikalischer Auftritte – „Engagement“,
„Stelle“ etc. – etwas darüber, auf welche zeitgenössische Form des Musizierens
sich der/die ErzählerIn in seiner/ihrer Erzählung bezieht. Ein Einwand gegen das
Sichtbarwerden zeitgenössischer Strukturen durch das Einnehmen einer konstruk-
tivistischen Perspektive auf lebensgeschichtliche Erzählungen ist allerdings die
Feststellung, dass diese zwar vieles über den Kontext ihrer Produktion, aber wenig
bis nichts über den Kontext der darin vorkommenden Erzählung, d. h. über die
gesellschaftlichen Verhältnisse, die den zeitlichen Rahmen der erzählten Erleb-
nisse bilden, aussagen.27 Da das Produktionsdatum der in meiner Untersuchung
verwendeten Erzählungen teils erheblich variiert (von den 1920er- bis hin zu den
1980er- Jahren), wäre dieser Ansicht nach eine Fokussierung der Untersuchung auf
den Zeitraum von Beginn des 20.
Jahrhunderts bis 1938 damit nicht mehr möglich.
Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass die Produktion von Erzählungen ein starkes
Element des Erinnerns beinhaltet. Die erzählten Erlebnisse wurden nicht ‚wirk-
lichkeitsgetreu‘ oder ‚objektiv‘ wiedergegeben, doch der für die Erzählung zentrale
25 von Greyerz, Ego- Documents, 275.
26 Vgl. etwa Depkat, Stand, 176 ff.
27 Vgl. etwa Depkat, Stand, 178; Fuchs- Heinritz, Forschung, 162; Heinze, Autobiographie, 114 f.
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Lebensgeschichtliche Erzählungen als historische
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Title
- Über die Produktion von Tönen
- Subtitle
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Author
- Georg Schinko
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 310
- Keywords
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Category
- Kunst und Kultur