Page - 282 - in Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren - Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
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282 Mario Döberl
verweisen auf die Jahre ab 1745, die Kreuze des Militär-Maria-Theresien-Ordens bezie-
hungsweise des Sankt Stephan-Ordens sogar erst auf die Zeit ab 1757 beziehungsweise
1764, als diese beiden Orden gestiftet wurden. Gegen eine solch späte Datierung des
Tragsessels sprechen aber eindeutig stilistische Gründe, weshalb es wahrscheinlich ist,
dass zumindest diese Teile der Stickerei nicht dem Originalzustand der Entstehungszeit
entsprechen.292
Bislang wurden bereits einige Versuche unternommen, den Tragsessel auch zeitlich ein-
zuordnen. Schon im Katalog der 1888 veranstalteten Maria-Theresia-Ausstellung wurde
der Tragsessel zeitlich als „Theresianisch“ eingestuft.293 In einem 1906 erschienenen Führer
durch den Hofmarstall wurde der damals in der Reichen Sattel- und Geschirrkammer aus-
gestellte Tragsessel zwar nicht datiert, jedoch als „Gala-Tragsessel der Kaiserin Maria The-
resia“ bezeichnet.294 Ein Wagenburg-Führer der Zwischenkriegszeit gab als Entstehungszeit
für den Tragsessel die Mitte des 18. Jahrhunderts an, ohne diese Grobdatierung näher zu
erörtern.295 In seinem monumentalen Werk „Die Kunst des deutschen Möbels“ schreibt
Heinrich Kreisel über den Tragsessel: „Er ist die Arbeit eines Bildhauers, der noch ganz in
den Formvorstellungen Kaiser Karls VI. lebte, so daß wir dieses seltene Möbel, von dem be-
kannt ist, daß es schon für die Kaiserin gefertigt worden ist, zu Beginn ihrer Regierungszeit,
also nach 1740, ansetzen dürfen.“296 Christian Witt-Dörring hielt sich in seiner Dissertation
über die „Möbelkunst am Wiener Hof zur Zeit Maria Theresias“ eng an Kreisels Analyse
und ordnete den Tragsessel in die Zeit nach 1740 ein, wobei auch er konstatierte, dass die
„Struktur sowie die geschnitzte Dekoration des Tragsessels […] zurück in die Zeit Karl VI.“
weisen und es sich dabei um ein typisches Beispiel für ein Möbelstück aus den ersten Regie-
rungsjahren Maria Theresias handle, das „noch ganz im Geist der Zeit Karl VI.“ gearbeitet
sei.297 Zuletzt wurde der Tragsessel von Monica Kurzel-Runtscheiner in die Jahre um 1740
datiert.298 Stilistische Gründe und archivalische Funde lassen annehmen, dass dieses trans-
portable Sitzmöbel älter ist als bislang angenommen und nicht nur im „Geist der Zeit“
Karls VI. gestaltet wurde, sondern tatsächlich während seiner Regierungszeit entstand. So
ist etwa die Art der Gestaltung der geraden, vierkantigen Sesselbeine in balusterartiger
292 Die spätere Anbringung eines jüngeren Wappens ist auch für einen aus dem 17. Jahrhundert da-
tierenden Tragsessel der Nymphenburger Wagensammlung dokumentiert. Siehe dazu den Beitrag
von Gudrun Szczepanek und Friederike Ulrichs im vorliegenden Band.
293 Katalog der Kaiserin-Maria-Theresia-Ausstellung (Wien 21888), S. 96, Nr. 1065.
294 Kurzer Führer durch die k. und k. Hofmarställe (o.O., o.J., aber Wien 1906), S. 1.
295 August Grosz, Führer durch die Wagenburg in Schönbrunn (Wien 1931), S. 37.
296 Heinrich Kreisel, Die Kunst des deutschen Möbels. Bd. 2: Spätbarock und Rokoko (München
1970), S. 221 f. Zum Tragsessel siehe auch ebenda, S. 406, Abb. 661.
297 Witt-Dörring 1978 (wie Anm. 3), S. 182 und Abb. 267.
298 Monica Kurzel-Runtscheiner 2004 (wie Anm. 1), S. 95.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Title
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Subtitle
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Author
- Mario Döberl
- Editor
- Alejandro López Álvarez
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Size
- 17.5 x 24.7 cm
- Pages
- 432
- Categories
- Geschichte Vor 1918