Page - 285 - in Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren - Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
Image of the Page - 285 -
Text of the Page - 285 -
Tragsessel an den Höfen der österreichischen Habsburger 285
Im Unterschied zu den oben genannten Ehrenämtern war der Sesselträgerdienst am
Kaiserhof mit zu wenig Sozialprestige verbunden, um ihn für hochrangige Hoffunktio-
näre erstrebenswert zu machen. Die Bedienung von Tragsesseln galt als subaltern und
wurde deshalb von einfachen Hofdienern übernommen. Nur in Ausnahmefällen unter-
stützten Adelige die professionellen Sesselträger. Das Tragen von Sesseln war für Ange-
hörige der sozialen Oberschicht auch deshalb nicht opportun, weil Sesselträger nicht nur
bei einmaligen, herausragenden Ereignissen herangezogen wurden, wie etwa beim Tra-
gen von Baldachinen im Rahmen des Adventus-Zeremoniells oder beim Transport eines
fürstlichen Leichnams, sondern im Bedarfsfall ständig im Einsatz standen. Zudem war
das Gewicht von Tragsesseln beachtlich307 und stellte in Verbindung mit dem Körper-
gewicht der zu transportierenden Person eine Last dar, die nur mit der entsprechenden
körperlichen Konstitution, Ausdauer und Übung zu bewältigen war. Wohl nicht zuletzt
auch aus Sicherheitsgründen griff man am Kaiserhof bei Sesselträgern auf zuverlässige
Fachkräfte zurück, die schon seit längerer Zeit in ihrem Metier erprobt waren. Das ge-
sundheitliche Risiko, dem sich etwa eine schwangere Fürstin und ihr ungeborenes Kind
durch eine unsachgemäße Bedienung des Tragsessels ausgesetzt gesehen hätten, war zu
hoch, um die Beförderung von Tragsesseln ungeübten Amateuren zu überlassen. Aller-
dings ließen sich auch durch den Einsatz fachkundiger Sesselträger Unfälle nicht zur
Gänze ausschließen. Am 5. Januar 1656 berichtet Kardinal Ernst Adalbert von Harrach
von einem Unfall, der sich kurz zuvor in Wien ereignet hatte. Als sich der damals bereits
stark gebrechliche Kaiser Ferdinand III. im Tragsessel zu den Jesuiten bringen ließ, brach
plötzlich ein Trageholm seines Transportmittels. Der Kaiser stürzte aus dem Sessel, fiel
zuerst auf die Knie, konnte sich mit den eigenen Händen gerade noch rechtzeitig abstüt-
zen und kam so mit dem Schrecken und ohne gröbere Verletzungen davon.308 Ein ande-
rer überlieferter Unfall mit einem Tragsessel entstand nicht aufgrund von Materialermü-
dung, sondern durch die Pflichtvergessenheit eines Sesselträgers. Im Jahr 1665 besuchte
die Frau von Graf Pötting, dem kaiserlichen Botschafter am spanischen Hof, in Madrid
eine Verwandte und ließ sich dabei von ihren Sesselträgern transportieren. Einer davon
hatte durch übermäßigen Alkoholkonsum seine Sinne so stark benebelt, dass durch sein
Verschulden der Tragsessel mitsamt der Gräfin zu Boden stürzte. Der Graf, der den Vor-
307 Erwähnt sei das Gewicht von zwei aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammenden Tragses-
seln des Wiener Hofes. Der eine, ein offener Tragsessel (Kaiserliche Wagenburg Wien, Inv.-Nr. W
96, Abb. 15–16) wiegt samt Trageholmen 24,5 Kilogramm, der andere, ein Exemplar mit geschlos-
senem Sitzkasten und Verglasung (Kaiserliche Wagenburg Wien, Inv.-Nr. W 92), 78 Kilogramm.
KHM, Kaiserliche Wagenburg, Inventar.
308 Keller/Catalano 2010 (wie Anm. 213), Bd. 6, S. 120. Auch der Bruch einer Tragstange einer
päpstlichen sedia gestatoria ist überliefert, nämlich beim Einzug von Papst Julius II. 1510 in Bolo-
gna. Märtl 2000 (wie Anm. 10), S. 164.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
back to the
book Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren - Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts"
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Title
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Subtitle
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Author
- Mario Döberl
- Editor
- Alejandro López Álvarez
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Size
- 17.5 x 24.7 cm
- Pages
- 432
- Categories
- Geschichte Vor 1918