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ihrer finanziellen Notlage und davon, dass Müller ihr versprochen habe, sie zu heiraten,
sollte er als Sesselträger am Kaiserhof aufgenommen werden. Da erst kürzlich der Hof-
sesselträger Hans Georg Hendl verstorben und deshalb ein Planposten frei geworden sei,
bat die Witwe den Oberststallmeister, Müller die Aufnahme in den Hofdienst zu ermög-
lichen.337 Offenbar gelang es der Bittstellerin, ihren Wunsch durchzusetzen, da Joachim
Müller im kaiserlichen Hofstaatsverzeichnis von 1704 als Sesselträger gelistet ist.
Eine andere interessante Berufslaufbahn schilderte der kaiserliche Sesselträger Johann
Thurnpüchler338 in einem Schreiben an Leopold I., in dem er um finanzielle Unterstützung
für eine Wallfahrt nach Tirol ersuchte. Er habe, so Thürnpüchler, seit insgesamt fünfund-
dreißig Jahren als Sesselträger gedient, lange Zeit davon am Innsbrucker Hof bei Erzher-
zog Ferdinand Karl (1628–1662), bei dessen Bruder, Erzherzog Sigismund Franz (1630–
1665) und bei Ferdinand Karls Witwe Anna de’ Medici (1616–1676), bis er schließlich an
den Wiener Hof wechselte, wo er nun seit neun Jahren der Kaiserin zugeteilt sei.339 Johann
Thurnpüchler war nicht der einzige Sesselträger am Innsbrucker Hof, der nach dem Tod
von Anna de’ Medici vom Wiener Hof übernommen wurde. Derselbe Ortswechsel und
Karrieresprung ist auch für vier andere Sesselträger dokumentiert, nämlich für Johann
Adami, Johann Obermarcher,340 Franz Adami und Peter Thurnpüchler.341 Diese Beispiele
demonstrieren, dass Sesselträger auch über Zwischenstationen an Höfen habsburgischer
Nebenlinien zu einer Anstellung am Kaiserhof gelangen konnten. Aber auch der Sesselträ-
gerdienst im Hofstaat eines designierten Thronfolgers konnte als relativ sicheres Sprung-
brett für einen Aufstieg in den kaiserlichen Hofstaat gelten. So wurden beispielsweise vier
der fünf Sesselträger, die 1635 im Hofstaat König Ferdinands III. tätig waren, nach dessen
Übernahme der Kaiserwürde im Jahr 1637 als Sesselträger in den kaiserlichen Hofstaat
übernommen.342 Ähnliches lässt sich bei der Regierungsübernahme Josephs I. im Jahr 1705
beobachten. Alle acht Sesselträger, die sich zuvor in seinem königlichen Hofstaat befunden
hatten, wurden nach seiner Regierungsübernahme zu kaiserlichen Sesselträgern ernannt.343
337 Maria Susanna Pachnerin an Oberststallmeister Ferdinand Bonaventura Graf Harrach, undat.
(aber zwischen 1677 und 1699), ÖStA, AVA, FA Harrach, Akten, K. 2517, unfol.
338 Für Namensvarianten siehe Anm. 320.
339 Kaiserlicher Sesselträger Johann Thurnpüchler an Kaiser Leopold I., undat. (aber um 1685), ÖStA,
AVA, FA Harrach, Akten, K. 2517, unfol.
340 Andernorts auch „Obermayr“.
341 ÖStA, FHKA, NÖHA, K. 790, fol. 1356r; ÖStA, AVA, FA Harrach, Akten, 796, Konv. „Oester-
reich, Hofstaat. Gestütte Lippizza und Kladrub und Oberststallmeisteramt.“, fol. 41r.
342 ÖStA, HHStA, OMeA, SR, K. 76, Konv. 5, unfol.; ÖStA, HHStA, OMeA, SR, Bd. 186, fol.
184v–187r.
343 Käyserlicher und Königlicher wie auch Ertz-Hertzoglicher und dero Residentz-Stadt Wienn
Staats- und Stands-Kalender / Auff das jahr M.DCCIV. Mit einem noch nie dergleichen gesehe-
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Title
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Subtitle
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Author
- Mario Döberl
- Editor
- Alejandro López Álvarez
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Size
- 17.5 x 24.7 cm
- Pages
- 432
- Categories
- Geschichte Vor 1918