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beförderten. Bei einer Zahl von vier Sesselträgern lässt sich noch am ehesten annehmen,
dass an jedem der vier Enden der Trageholme jeweils ein Mann anpackte. Fraglich ist hin-
gegen, wie man sich die Arbeitsteilung bei sechs Sesselträgern vorstellen kann. Möglicher-
weise standen auch in einem solchen Fall nur vier Männer gleichzeitig im Trageeinsatz,
während zwei weitere Bedienstete neben dem Sessel hergingen, um der transportierten
Person beim Auf- und Absteigen behilflich zu sein und um ihre müde gewordenen Kolle-
gen im Bedarfsfall abzulösen.
5 Die Einführung von Miettragsesseln in Wien
Bei der Einführung von Miettragsesseln war die kaiserliche Residenzstadt Wien im inter-
nationalen Vergleich ein Nachzügler. In anderen europäischen Machtzentren waren der-
artige öffentliche Verkehrsmittel schon seit langer Zeit verbreitet, als einem Kammerdiener
des Grafen Kaunitz namens Michel de la Place im Jahr 1689 das erste kaiserliche Privileg
verliehen wurde, Tragsessel in Wien gegen Bezahlung bereitzustellen. Zwar ist weder das
Privileg erhalten noch sein genauer Wortlaut bekannt, doch lassen Schreiben351, die rund
um die Ausstellung dieses Dokuments verfasst wurden, keine Zweifel daran, dass es zu
einem unbekannten Zeitpunkt zwischen 5. August und 21. Oktober 1689 tatsächlich in
Kraft trat. Aus einem Gutachten, das im Vorfeld vom Bürgermeister und vom Stadtrat
Wiens eingefordert wurde, geht deutlich hervor, dass die Widerstände gegen die Einfüh-
rung von Miettragsesseln beträchtlich waren. Im Gutachten wird einerseits betont, dass
die bürgerlichen Wirte und alle anderen Personen, die Mietwagen unterhielten, besorgt
seien, dass ihnen durch Miettragsessel finanzielle Nachteile entstehen könnten. Anderer-
seits wird darin aber auch bezweifelt, dass für ein derartiges neues Gewerbe, das bisher
„niemahlen alhier practicirt“ wurde, überhaupt die nötige Geschäftsgrundlage vorhanden
sei: Die hohen und mittleren Stände würden weiterhin ihre eigenen Wagen verwenden,
ausländische Adelige, die in Wien weilten, würden auch in Zukunft auf Mietkutschen
zurückgreifen, und schließlich würden sich Bürger sowie Handwerker durch die Neuerung
nicht davon abbringen lassen, weiterhin zu Fuß zu gehen. Wenn sich schließlich auch
noch der Hofstaat außerhalb Wiens aufhielte, würde das Geschäft vollends zum Erliegen
Ähnliches wird vom Hervorgang Maria Theresias nach der Geburt des späteren Kaisers Joseph II.
im Jahr 1741 berichtet. Dabei wurden der Erzherzog und seine Aja in einem von sechs könig-
lichen Sesselträgern beförderten Tragsessel von der Retirade zur Augustinerkirche gebracht. ÖStA,
HHStA, ZA, Prot. 18, fol. 84v–85r.
351 Einliegend in WStLA, Hauptarchiv – Akten, A1 – Hauptarchiv – Akten und Verträge, 32/1689,
unfol.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Title
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Subtitle
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Author
- Mario Döberl
- Editor
- Alejandro López Álvarez
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Size
- 17.5 x 24.7 cm
- Pages
- 432
- Categories
- Geschichte Vor 1918