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318 Gudrun Szczepanek – Friederike Ulrichs
barkeiten des königlichen Marstalls aufbewahrt wurden.9 Die Qualität der Textilien und Sti-
ckereien des Tragsessels wurde so hoch geschätzt, dass er 1876 als Leihgabe König Ludwigs II.
in der Kunst- und Industrieausstellung im Münchner Glaspalast zu sehen war.10 Neben kost-
baren Exponaten des South Kensington Museum (heute Victoria & Albert Museum) in Lon-
don war der Tragsessel als Beispiel für herausragendes Kunsthandwerk ausgestellt.
1 2 Tragsessel mit silber-blauem Lackdekor, um 1747
Der zweite erhaltene Tragsessel des Münchner Hofs entstand wohl um 1747 anlässlich der
Vermählung von Kurfürst Max III. Joseph mit Maria Anna Sophie von Sachsen.11 Auch bei
diesem Tragsessel (Abb. 4) mag die kostbare Ausstattung und insbesondere der aufwendige
Lackdekor in Silber und Blau, den heraldischen Farben Bayerns, ausschlaggebend für die Er-
haltung gewesen sein. Die hölzerne Kastenwandung ist mit Leinwand kaschiert und außen
mit Azurit-Blau und teils poliertem Zinnpulver bemalt.12 Die Rahmenkonstruktion zeigt ehe-
mals blauen Lüster und Poliment-Versilberung. Sowohl das kleinteilige, zierliche Rautenmus-
ter der Paneele als auch das Schnitzwerk der Rahmen greift das Webmuster des prachtvollen
silbernen und blauen Seidenstoffs auf, mit dem der Innenraum ausgestattet ist. Nur bei ge-
nauem Hinsehen wird deutlich, dass die Maler das Stoffmuster bis ins kleinste Detail, wie
zum Beispiel den Schatten beziehungsweise das Changieren des Gewebes, imitierten (Abb.
5). Die äußere Dekoration des Tragsessels wurde somit nach dem damals kostbarsten Mate-
rial, dem Textil, angefertigt. Das Muster ist dem Droguet verwandt, einem Seidengewebe mit
schmalen Musterrapporten, der aber gewöhnlich in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts
datiert wird (Abb. 6). Hier könnte es sich um ein frühes Beispiel handeln.13 Die originalen
9 Johann Michael von Söltl beschreibt 1838 in „München mit seinen Umgebungen“ die Sattelkam-
mer, allerdings ohne den Tragsessel zu erwähnen. Johann Michael von Söltl, München mit seinen
Umgebungen historisch, topographisch, statistisch dargestellt (München 1838), S. 207. – Vgl. Wa-
ckernagel 2002 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 101 und 103, Anm. 14.
10 Vgl. Wackernagel 2002 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 101, Abb. 111. – Der 1931 ausgebrannte Glaspalast
war ein multifunktionales Ausstellungs- und Veranstaltungsgebäude im Alten Botanischen Garten
in München. König Maximilian II. ließ ihn 1853/54 nach Plänen von August von Voit (1801–1870)
erbauen. Als Vorbild diente die Eisen-Glas-Konstruktion des berühmten Crystal Palace in Lon-
don. Durch den Glaspalast begründete sich der Ruf Münchens als fortschrittlicher Wirtschafts-
und Messestandort sowie als Kunststadt.
11 Ob er in München gefertigt wurde, wie Wackernagel 2002 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 82 vermutet,
oder doch in Paris, bedarf noch weiterer Forschungen.
12 Alle technischen Angaben verdanken wir Dipl.-Rest. Hella Huber, Möbelrestaurierung der BSV,
die die Lackmalerei des Tragsessels 2015/16 restauriert hat.
13 Vgl. Wackernagel 2002 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 105.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Title
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Subtitle
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Author
- Mario Döberl
- Editor
- Alejandro López Álvarez
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Size
- 17.5 x 24.7 cm
- Pages
- 432
- Categories
- Geschichte Vor 1918