Page - 370 - in Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren - Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
Image of the Page - 370 -
Text of the Page - 370 -
370 Marie Maggiani
von „camaieu doutremer“. Der bereits erwähnte Paradis schloss hierfür Verträge mit zwei in
Aix-en-Provence ansässigen Malern, zunächst mit François Palme, einem Italiener, der sich
in der Stadt niedergelassen und bis zu seinem Tod 1686 vor allem als Innendekorateur ge-
arbeitet hatte, und wenig später mit Ephrem beziehungsweise Meiffren Comte, der damals
sechsundzwanzig Jahre alt war und bis heute für seine Stillleben bekannt ist, auf denen
er häufig kostbare Goldschmiedearbeiten darstellte. Wir können also davon ausgehen,
dass Paradis seinen Kunden nicht nur solide gebaute, sondern auch optisch ansprechende
Fahrzeuge zur Verfügung stellen konnte. Sieht man von der obligatorisch anzubringenden
Vehikelnummer ab, liefern die Verordnungen für Miettragsessel hinsichtlich des äußeren
Erscheinungsbildes kaum Informationen. Offenbar gab es auf diesem Gebiet keine festen
Regeln, und es stand den Betreibern frei, ihre Miettragsessel nach eigenem Ermessen zu
gestalten. Vermutlich waren damals neben dunklen, in nur einer einzigen Farbe gefassten
Miettragsesseln auch auffällige Vehikel mit bunter Bemalung und reicher Verzierung im
Umlauf.
Zur Gruppe jener Miettragsessel, die gewiss die Blicke der Passanten auf sich zogen,
zählt ein seltenes Exemplar, das sich in einer Privatsammlung erhalten hat (Abb. 10). Der
aufgrund formaler Kriterien in das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts zu datierende Trag-
sessel war ein Vorläufer heutiger Taxis und wurde am Hof von Versailles benutzt. Seit 1677
wurde in der königlichen Residenz ein Tragsesselservice angeboten, dessen „chaises dorées“
genannte Vehikel die Kunden auf Wunsch bis zu den Gemächern beförderten. Von diesen
Tragsesseln unterschieden sich die sogenannten „chaises bleues“, deren Bezeichnung von
der Farbe der königlichen Livree herrührte und die für sechs sols gemietet werden konn-
ten.57
Besondere Beachtung verdient der Originaldekor des Vehikels, der unter einer Über-
malung zum Vorschein kam. Der Tragsessel war ursprünglich mit der Nummer 75 ver-
sehen und stammt aus einer Serie, aus der zumindest noch ein weiteres Exemplar erhalten
ist.58 Auf den Paneelen kamen lediglich drei Farben zum Einsatz, nämlich Rot und ein
kräftiges Blau für die Einrahmungen sowie ein Beigeton, der mittels Schattierungen den
Eindruck einer Vergoldung erzeugen sollte. Motive wie Palmetten und andere vegetabile
Formen sind durch Motive ergänzt, die dem höfischen Ambiente entsprachen, in dem
die Tragsessel verwendet wurden: französische Lilien und Palmblätter, gekreuzte Zepter
mit Schwurhand beziehungsweise fleur de lys und schließlich das mit einer Königskrone
versehene Monogramm des Monarchen, ein „L“ in doppelter Ausführung, gespiegelt und
in sich verschlungen. Das hintere Kastenpaneel zeigt auf einer bekrönten Kartusche ein
57 Uzanne 1900 (wie Anm. 19), S. 116.
58 Dieser zweite Tragsessel trägt die Nummer 17 und befindet sich in einer englischen Privatsamm-
lung.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
back to the
book Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren - Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts"
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Title
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Subtitle
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Author
- Mario Döberl
- Editor
- Alejandro López Álvarez
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Size
- 17.5 x 24.7 cm
- Pages
- 432
- Categories
- Geschichte Vor 1918