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Transdifferenz 27
Jede individuelle ist auch eine kulturelle Identität und auf die Besonderheiten
und Bedürfnisse kultureller Gruppen sowie über Sprache, Praktiken und Wertvor-
stellungen auf einen kollektiven Bedeutungsraum bezogen.4 Während in vormo-
dernen Gesellschaften der kulturelle Bezugsrahmen universalistische Bedeutung
hatte, stellt er in der Moderne in zunehmendem Ausmaß nur noch eine Matrix dar,
innerhalb derer sich das Individuum jeweils verorten kann: In der Literatur findet
dieses Phänomen in der narrativen Darstellung individueller Geschichten oder ex-
emplarischer Geschichten der Individuation seinen Ausdruck.
Umgekehrt ist der Verlust eines gemeinsamen Bedeutungsraums nicht nur die
Folge der Kritik und der Skepsis, mit denen diesem begegnet wird, er führt durch
die Infragestellung der bisherigen Ordnung und Wertvorstellungen auch zu ge-
sellschaftlichen wie individuellen Krisen.5 Denn je größer die Offenheit gegenüber
dem Anderen, desto größer die Verunsicherung sowie die Gefahr, in ein restrik-
tiveres Muster zurückzufallen. Man denke nur an den damals virulenten Gender-
diskurs – auf den meist unter dem verfälschenden Ausdruck »Frauenfrage« re-
kurriert wurde –, der die allmähliche Liberalisierung der Genderrollen zur Folge
hatte. Diese Auflösung genderspezifischer Abgrenzungen ging jedoch mit vielen
Rückschlägen nur schleppend vor sich und oszillierte zwischen dem Vorpreschen
in Form von feministischen Forderungen und den Rückschlägen durch misogyne
Publikationen.
Diese historischen Diskurse sind an unterschiedlichen gesellschaftlichen wie
topografischen Orten unterschiedlich ausgeprägt. Die »Gleichzeitigkeit des Un-
gleichzeitigen«6 sozialer Prozesse wird im Zuge einer Migration verstärkt erfahr-
bar und kann aufgrund polysemantischer Zugehörigkeitsmuster, die in ein und
derselben sozialen Praxis, in ein und demselben Diskurs simultan wirksam sind,7
innerhalb eines Subjekts Widersprüche hervorrufen.8 Auch Straub und Renn be-
trachten diesen »Prozesscharakter« als Charakteristikum »moderner personaler
Selbstverständnisse«, das sie mit dem Begriff der »transitorischen Identität« be-
4 | Vgl. Rosa, Hartmut: Identität. In: Straub, Jürgen/Weidemann, Arne/Weidemann, Doris
(Hg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien –
Anwendungsfelder. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 47-56, hier S. 53.
5 | Vgl. ebd.
6 | Vgl. Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit [1935]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985.
7 | Vgl. Reckwitz, Andreas/Bonacker, Thorsten: Das Problem der Moderne: Modernisie-
rungstheorien und Kulturtheorien. In: dies. (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Pers-
pektiven der Gegenwart. Frankfurt a.M./New York: Campus 2007, S. 7-18, hier S. 17.
8 | Der Begriff der »transitorischen Identität« ist im Vergleich zu anderen prozessualen
Identitätskonzepten weitaus umfassender und offener, weil er nicht nur in Bezug auf Fremd-
begegnung konzipiert ist, und zugleich differenzierter, weil er auf jede situative Herausfor-
derung der Begegnung übertragbar ist. Es würde den Rahmen dieser Studie sprengen, die
Nähe und Differenzen zu anderen Konzepten prozessualer Hybrididentitäten zu erläutern.
Vgl. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London/New York: Routledge 1994; Young,
Robert J.C.: Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture and Race. London: Routledge 1995;
Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam 62003; Reckwitz, Andreas: Das
hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Post-
moderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur