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Alexandra
Millner30
nur in den gemischtsprachigen Gebieten und den mehrsprachigen Schulen an-
zutreffen, sondern auch in bestimmten beruflichen Bereichen (Dienstboten- und
Handwerkerstand) üblich. Die Mehrsprachigkeit der Autorinnen machte sich an
fremdsprachlichen Elementen in ihren Texten bemerkbar, die Vertrautheit mit
den kulturellen Gepflogenheiten der anderen Ethnie scheint ihnen durchaus ver-
traut zu sein – weshalb in Bezug auf gemischtsprachige Gebiete, in denen eine
solche ethnische wie soziale Grenzen transzendierende Vertrautheit bis zu einem
bestimmten Ausmaß vorausgesetzt werden kann, nicht von fremden, sondern von
anderen Kulturen gesprochen werden sollte.20
1.3 Innovationspotenzial
Das Untersuchungsmaterial der vorliegenden Studie umfasst Textbeispiele aus
einem Textkorpus, in dem die oben genannten Themen auf prominente Weise an-
gesprochen sind; denn nicht alle Texte der migrantischen Autorinnen sind thema-
tisch auf diese Erfahrung ausgerichtet. Auffällig ist die Häufung der Bezugnahme
auf das Herkunftsland oder das Reiseziel unmittelbar nach der Migration bezie-
hungsweise Reise – ein möglicher Hinweis auf eine prägende Fremderfahrung
und die diesbezügliche Verarbeitungsfunktion von Literatur. Je älter die Texte sind,
desto indirekter werden gesellschaftskritische Inhalte angesprochen; oft äußern sie
sich nur in subtilen Abänderungen konventioneller literarischer Verfahren, deren
analytische Dechiffrierung erst den subversiven Inhalt sichtbar macht.
Am deutlichsten lassen sich die Abweichungen von konventionellen literari-
schen Verfahren an jenen Texten ablesen, in denen literarische Motive und Stoffe
vorerst auf epigonenhafte Weise verwendet werden:21 etwa die schöne Zigeunerin
oder die gebildete Reisende, die frivole Schauspielerin oder der kaltblütige Vamp,
der naive autochthone Reiseführer oder der verwilderte Heimkehrer oder der un-
gebildet-ignorante amerikanische Tourist. Im Verlauf der Erzählung werden ihre
vertrauten Geschichten jedoch mit neuen Wendungen versehen und anders er-
zählt, die Figuren mit neuem Entwicklungspotenzial ausgestattet: Der Vergleich
zwischen Prätext und intertextueller Variation macht deutlich, dass der Fokus ten-
denziell auf sozial Marginalisierte verschoben wird – ein Phänomen, das sich übri-
gens auch für die heutige ›Literatur migrierter Autorinnen und Autoren‹ feststellen
lässt. Dies geschieht durch die polyphone Gestaltung des récit, durch das Neben-
einander diverser individualisierter Figurenreden, durch Null- und multiple Foka-
lisierung, die eine (Gegen-)Sicht der Unterdrückten zulässt, oder durch die Psycho-
logisierung sowie Thematisierung der sozialen Not mancher Figuren. Durch neue
literarische Verfahren in Bezug auf altbekannte Stoffe werden gesellschaftliche
Grenzziehungen transzendiert und bisher ausgegrenzte Figuren (Perspektive der
20 | Vgl. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 2006.
21 | Vgl. Millner, Alexandra: Literarische Verfahren als Spuren der Empörung. Zur deutsch-
sprachigen Literatur von Migrantinnen in der späten Habsburger Monarchie. In: dies./Ober-
reither, Bernhard/Straub, Wolfgang (Hg.): Empörung! Besichtigung einer Kulturtechnik. Bei-
träge aus Literatur- und Sprachwissenschaft. Wien: Facultas 2015, S. 75-94.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur