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Transdifferenz 31
Zigeunerin22 versus Carmen/Zigeunerbaron23) beziehungsweise Themen (weibli-
che Sexualität, Infragestellung des eurozentristischen ethnografischen Projekts,
Friedensinitiativen) in das Blickfeld gerückt.
So schildert etwa Marie Eugenie delle Grazie (1864–1931) in ihrer Erzählung
Die Zigeunerin (1885)24 die Geschichte der schönen verführerischen Zigeunerin
Dora nicht aus reiner Außensicht auf eine amoralische Herzensbrecherin, sondern
durch Nullfokalisierung auch aus ihrer Perspektive, was zu identifikatorischer Lek-
türe anregt und sie als moralisch integre Person darstellt – bis zu dem Zeitpunkt,
als sie dem Wahnsinn verfällt.
Auch wenn diese Innovationen durch den Vergleich offensichtlich werden, kön-
nen ähnliche Verfahren auch in Texten festgestellt werden, in denen Intertextuali-
tät nicht relevant ist.
2. meThode der Transdifferenz
Um Einschreibungen gesellschaftlicher Übergänge beziehungsweise emanzipato-
rische Entwürfe in literarischen Figurenkonstruktionen analysieren zu können, ist
es notwendig, mit Identitätskonzeptionen zu arbeiten, durch welche die unaufhör-
liche Wechselwirkung zwischen individuellen und kollektiven Identifizierungspro-
zessen fassbar wird. Dabei sollen identitätsbestimmende Differenzmerkmale so-
wohl einzeln als auch in ihrer intrasubjektiven Wechselwirkung sichtbar gemacht
und sowohl die Prozesshaftigkeit als auch die Dynamiken berücksichtigt werden,
die sich aus der steten transsubjektiven und kollektiven Bezogenheit des Individu-
ums ergeben. Im Folgenden sollen deshalb drei soziologisch-kulturwissenschaft-
liche Konzepte – Intersektionalität, interdependente soziale Kategorien und Trans-
differenz – vorgestellt und miteinander verknüpft werden, um sie in Kombination
mit literaturwissenschaftlichen Methoden zu einer Analysemethode mehr oder
weniger latenter historischer Gesellschaftskritik zu entwickeln.
2.1 Äußeres Handlungsgerüst: histoire
Das Erfahrungswissen von Migrantinnen ermöglicht eine differenzierende Wahr-
nehmung des Phänomens des Fremden und äußert sich neben den bereits er-
wähnten narrativen Strategien auf subtile Weise in einer differenzierten Figuren-
gestaltung, welche diverse literarische Stereotypisierungen der damaligen Zeit
konterkariert.
22 | Der belastete Begriff der »Zigeunerin« wird hier beibehalten, da er in den literarischen
und ethnografischen Texten der Zeit so verwendet wird und er auch die stereotypen negati-
ven Projektionen, die damit einhergehen, mit umfasst. Vgl. dazu auch Uerlings, Herbert: »Ich
bin von niederiger Rasse«: (Post-)Kolonialismus und deutsche Literatur. Köln/Weimar/Wien:
Böhlau 2006, S. 18.
23 | Vgl. Millner, Alexandra: »Die Zigeunerin« als Projektionsfigur feministischer Gesell-
schaftskritik. Zu einer frühen Erzählung von Marie Eugenie delle Grazie. In: Patrut/Guţu/
Uerlings (Hg.): Fremde Arme – arme Fremde, S. 107-124.
24 | Grazie, Marie Eugenie delle: Die Zigeunerin. Eine Erzählung aus dem ungarischen Hai-
delande. Wien: Carl Konegen 1885.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur