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Alexandra
Millner36
Walgenbach und Dietze haben das Konzept der Intersektionalität dynamisiert. Sie
verschieben den analytischen Fokus von der Überlagerung distinkter Kategorien
beziehungsweise Zugehörigkeiten hin zum unabschließbaren Vorgang situativ-
prozessualen Zusammen- beziehungsweise Ineinanderwirkens. Demgemäß ist
etwa Gender nur eine dieser individuierenden Kategorien, die sich zugleich von
anderen wie Ethnizität, Klasse/Schicht, Sexualität, Alter, Nation, Religion/Konfes-
sion, regionale Herkunft, Profession, Befähigung/Behinderung, Familie/Haushalt
oder Besitzverhältnis geprägt zeigt. Je nach sozialem und historischem Kontext
und involvierten Subjekten sind diese interdependenten Kategorien von unter-
schiedlichen strukturellen Dominanzen geprägt.33
Kann das Konzept der Intersektionalität sinnvollerweise auf literarische Figu-
renkonstruktionen übertragen werden, sodass die noch offenen Fragen beantwor-
tet werden können? Oder konkret in Bezug auf unseren Beispieltext formuliert:
Warum reagieren die beiden jungen Wanderschauspielerinnen so unterschiedlich
auf die jüdische Kultur? Wenn wir auf die Tabelle der sozialen Kategorien zurück-
greifen, lassen sich mehrere Abweichungen zwischen den Protagonistinnen fest-
stellen: Die Erzählerin ist um einige Jahre jünger und weniger gebildet und erfah-
ren als ihre Kollegin Liese. Immer wieder – als wäre es zur Entschuldigung ihrer
Reaktion – wird im Narrativ auf die Jugend und die damit einhergehende Unwis-
senheit der Ich-Erzählerin, die retrospektiv erzählt, hingewiesen: »Du bist zu jung,
um zu fühlen, daß alles kommen muß, wie es kommt.«34 Die Erzählerin begegnet
dem Tun ihrer Freundin Liese voller Unverständnis. Zur Zeit des Geschehens ist
sie selbst zu jung, um die Erklärungen Lieses zu verstehen. Erst im Nachhinein
begreift sie die Gleichberechtigung der anderen Religion, toleriert die Möglichkeit
des Konvertierens und versteht die Entscheidungsfreiheit, die sich ihre Freundin
aus Liebe zu einem Mann genommen hat. Somit ist es auch der Dominanz des
Alters, der Bildung und Erfahrung zuzuschreiben, dass die beiden jungen Frauen
so unterschiedlich auf die fremde Religion reagieren.
Das Bewusstsein darüber, dass Identitäten sich in einem steten Wandlungs-
prozess befinden, dass sie temporalisiert, kontextualisiert oder individualisiert
werden können,35 ist den zur Debatte stehenden literarischen Texten als Prinzip
eingeschrieben, was nicht nur der zentralen Bedeutung des Kontingenzbegriffs in
der ästhetischen Moderne zuzuschreiben ist,36 sondern auch auf reale biografische
Erfahrungen zurückgeführt werden kann: Migrantinnen und Migranten sind im-
mer auch biografische Grenzgängerinnen und Grenzgänger, ihre Identitäten müs-
33 | Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Übers. v. Kathrina Menke. Frank-
furt a.M.: Suhrkamp 1991; Walgenbach, Katharina: Gender als interdependente Kategorie.
In: dies./Dietze/Hornscheidt/Palm: Gender als interdependente Kategorie, S. 23-64.
34 | Christen: Rahel, S. 7.
35 | Vgl. Rosa: Identität.
36 | Zur Kontingenz als Schlüsselbegriff der Moderne vgl. Graevenitz, Gerhart von/Mar-
quard, Odo (Hg.): Kontingenz. München: Fink 1998, darin insbesondere: Makropolous,
Michael: Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, S. 55-80; Jauß, Hans
Robert: Probleme des Verstehens: Das privilegierte Du und der kontingente Andere, S. 457-
488; vgl. Vietta, Silvio: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München: Fink 2001; vgl.
Dillmann, Martin: Poetologien der Kontingenz. Zufälligkeit und Möglichkeit im Diskursgefüge
der Moderne. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur