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Alexandra
Millner42
den muss. Entscheidend dürfte hier jedoch die Kategorie Gender sein, denn der
soziale Abstieg einer Frau fällt – wie im Vergleich zu Christens Rahel ersichtlich
wird – weit weniger ins Gewicht als jener eines Mannes.
2.6 Das Eigene und das Fremde
Auch wenn die schreibenden Migrantinnen und Reisenden über eine Teilnehmer-
perspektive verfügen, bleiben ihre literarischen Darstellungen der ungarischen
Hirten, der Zigeunerinnen und Zigeuner oder jüdischen Quartiergeber doch im-
mer nur Fremdbilder und damit Beschreibungen von außen. Gegenstand fiktiver
Identitätskonstruktionen kann daher immer nur die so genannte idem-Identität,
der modifizierbare Charakter (Gleichheit), sein im Gegensatz zur ipse-Identität
oder Selbstheit.50
Natürlich muss Gayatri Chakravorti Spivaks Frage »Can the subaltern speak?«51
auch an diesen Textkorpus gestellt werden. Manche Autorinnen lassen durch Illu-
sionsbrechung und Mehrfachbrechung des Erzählrahmens auch gar keinen Zwei-
fel an der Verneinung dieser Frage: Die Dominanz der Erzählinstanz hält die Filte-
rung und Außenperspektive der Erzählsituation im Bewusstsein der Leserschaft.
In Ada Christens Erzählung Rahel erinnert sich die Erzählerin an ihre Naivi-
tät als junge Schauspielerin, ihr Gefühl der Bedrohung durch das fremde Juden-
tum und wie sie die Konvertierung der Freundin Liese zum Judentum und deren
Hinwendung zu ihrem Bräutigam und dessen Familie als Abweisung empfunden
hat. Ihre Ängste erklärt sie nachträglich mit ihrer Unwissenheit. Liese nimmt mit
der jüdischen Religion nicht nur einen neuen Namen (Lea) an, sondern auch eine
transdifferente Identität. Indem die Erzählerin Zeugin von Lieses Selbstpositionie-
rung wird, wird das Fremde zum Anderen des Eigenen und verliert das Bedroh-
liche des Unbekannten.
In delle Grazies Erzählung, die von einer sich im Hintergrund haltenden Er-
zählinstanz vermittelt wird, treten erst in einem nachgestellten Erzählrahmen die
Erzählerinnen erster und zweiter Ordnung hinter dem récit hervor. Es stellt sich
heraus, dass sich eine etwa zwanzigjährige Frau an eine Erzählung ihrer Amme
erinnert, die das wilde Grab am Rande der Puszta zum Gegenstand hat: Es ist die
in doppelter Retrospektive dargestellte tragische Geschichte der Zigeunerin Dora.
Zugleich kritisiert die junge Frau die abwertende Haltung der Alten gegenüber den
›Zigeunern‹. Die junge, gebildete, in die Großstadt migrierte, moderne Frau zeigt
sich den Zigeunerinnen und Zigeunern gegenüber empathischer und toleranter als
die einfache, alte Untergebene, die durch ihre Erzählung das gesellschaftlich ver-
breitete Vorurteil noch verstärkt. Nur aufgrund des narrativen Rahmens kann die
Erzählung über eine Zigeunerin, die ihren Ausschluss aus der Ordnung mit grau-
samer Blutrache ahndet, anders denn als restaurative Hymne auf die alte Ordnung
gelesen werden. Das gesellschaftskritische Potenzial der Geschichte erschließt sich
erst, wenn man die Brechung des Erzählten durch die in der Rahmenhandlung er-
kennbare Erzählhaltung mitliest.
Es stellt sich die Frage nach der Haltung gegenüber dem Fremden, die durch
solche Kunstgriffe vermittelt werden soll. In weniger fiktionalisierten Texten wie
50 | Vgl. Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München: Fink 1996.
51 | Spivak: Can the Subaltern Speak?
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur