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Christoph
Leitgeb50
Während die symbolische Ordnung einer Gesellschaft aus der Binnenperspektive als natür-
lich, konsistent und historisch kontinuierlich erscheinen mag, ist sie von einer Metaebene aus
als historisch kontingente Konstruktion beschreibbar, die ihre vermeintlich unhinterfragbare
Gültigkeit der beständigen Unterdrückung von Alternativen und Differenzen in der Differenz
verdankt. Da symbolische Sinnsysteme bekanntlich in der sozialen Interaktion reproduziert
werden müssen, kommt der genannte Purifikationsprozess niemals zum Abschluss, so dass
ein großes Maß an kultureller Energie notwendigerweise in den Ausschluss anderer Möglich-
keiten zu Gunsten einer Naturalisierung der symbolischen Ordnung investiert werden muss,
wobei eben auch das Unterdrückte unablässig wieder aufgegriffen und wiederholt wird. Aus
einer diachronen Perspektive können Sinnsysteme damit treffender Weise als Palimpses-
te beschrieben werden: Die ausgeschlossenen Möglichkeiten können niemals ausgelöscht,
sondern lediglich mit der gewählten Möglichkeit überschrieben werden. Das Unterdrückte
bleibt damit im Sinne eines Palimpsests präsent und die ausgeschlossenen Alternativen
können rekonstruiert und reartikuliert werden.3
Die Stimmen der Kommunikation über Anna O. sind unleugbar vielfältig kultu-
rell kodiert. Als fiktive Figur, die aus der beschreibenden Erinnerung an Bertha
Pappenheim entsteht, ist sie Gegenstand eines Palimpsests: Dieses Palimpsest ist
jedoch immer auch als eine Überlagerung konkreter Akte sprachlicher Äußerung
unterschiedlicher Personen (und ihrer Rezeption) und nicht nur als eine Schich-
tung abstrakter kultureller Codes zu rekonstruieren.4
Wenn Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler das Palimp-
sest als Gestalt aus unterschiedlichen, identifizierbaren oder schon identifizierten
kulturellen Codes analysieren, nehmen sie es oft als abgeschlossen und schärfer
synchron-phänomenologisch sowie weniger scharf diachron-genealogisch in den
Blick. Daraus entsteht eine gewisse Selbstverständlichkeit, mit der sie sich, z.B.
beim Entwerfen des Konzepts der Transdifferenz, außerhalb des palimpsestischen
Spiels auf einer »Metaebene« verorten.
Diese Positionierung drückt sich zunächst in einer bestimmten Schreibweise
aus: Lösch benennt die Gewalt der An- und Enteignung im Palimpsest mit Be-
griffen wie »Naturalisierung«, »Unterdrückung von Alternativen«, »Purifikation«,
»ausgeschlossen« und »ausgelöscht«. Er bezeichnet damit allerdings weniger die
Betroffenheit historischer Akteure und die Intentionalität ihrer Sprechakte, son-
dern eine abstrakte Eigengesetzlichkeit ihrer Kultur. Diese Gesetzlichkeit wird
durch eine Terminologie des Zwangs (»müssen«, »notwendigerweise«, »niemals«,
»können niemals […] sondern lediglich«) untermauert.
Lösch formuliert für das Konzept der Transdifferenz zu Recht, dass »die sys-
temtheoretische Perspektive der Komplementierung durch handlungstheoretische
Ansätze« bedarf, »um den wie auch immer genauer zu bestimmenden Interpreta-
3 | Lösch, Klaus: Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer
Differenzkonstrukte. In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke (Hg.): Differenzen anders
denken, S. 26-52, hier S. 30; s. auch www.wsp-kultur.uni-bremen.de/summerschool/
download%20ss%202006/K.%20L%F6sch%20Transdifferenz.pdf (zuletzt eingesehen am
3.5.2015).
4 | Weil sich die Handlungseinstellung dieser Äußerungen nicht nur in ihrem Vokabular zeigt,
sondern auch im Anschlagen eines bestimmten Tons, werden diese Äußerungen hier oft um-
fangreicher zitiert.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur