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Palimpsest über Anna O. 51
tions- und Handlungsspielraum der sozialen Akteure zu berücksichtigen«.5 Letz-
terer bleibt dennoch merkwürdig unterbelichtet, wenn er sich konkret auf das Pa-
limpsest bezieht. Dabei hat etwa Gérard Genette das Palimpsest als Metapher einer
»Transtextualität« entworfen, in der sich Autorschaft bewusst innerhalb unter-
schiedlichster Rahmen und Textebenen positioniert. Eine solche Positionierung
des Subjekts wird aber dort hinfällig, wo das Palimpsest nicht mehr als Schichtung
spezifischer Kommunikationsakte erscheint, sondern als eine Strukturierung von
»symbolischer Ordnung« und Sprache.
2. Die Auffassung des Palimpsests als Gedächtnisspeicher, in dem
nichts vergessen wird, wurde vor Gérard Genette und Jacques
Derrida und nach Thomas De Quincey von der Psychoanalyse
Sigmund Freuds geprägt. Freud beschreibt sein Konzept des
Unbewussten mit der Metapher des Palimpsests. Wenn ein
»absolutes Gedächtnis« für die transdifferenten Möglichkeiten
der Bedeutung vorausgesetzt wird, so führt das umgekehrt auch
die Vorstellung eines »Unbewussten« in die Kulturtheorie ein.
Die Beschreibung von Transdifferenz als einer Wirkung der palimpsestischen
Überlagerung unterschiedlicher Sinnsysteme ist ihrerseits Teil eines Palimpsests.
Sie überschreibt eine Metapher für individuelles Gedächtnis, die nach Thomas De
Quincey6 insbesondere Sigmund Freud ausformuliert hat. Freud löst dabei die Pa-
limpsest-Metapher zunächst aus ihrer Konnotation antiker literarischer Bildung,
prominent in seiner Notiz über den »Wunderblock« (1925), in welcher er ein Me-
dium beschreibt, das Palimpseste erzeugt. Am Aufbau und an der Funktion des
Schreibgeräts betont er gleichzeitig die synchron-phänomenologische und die dia-
chron-genealogische Perspektive auf das Palimpsest. Wie das Unbewusste bewah-
re der Wunderblock permanente Gedächtnisspuren auf und überliefere sie; wie das
wahrnehmende Bewusstsein (W-Bw) organisiere das Gerät zugleich Möglichkeiten
eines aktiven Einschreibens und Verdrängens:
Der Block liefert also nicht nur eine immer von neuem verwendbare Aufnahmsfläche wie die
Schiefertafel, sondern auch Dauerspuren der Aufschreibung wie der gewöhnliche Papier-
block; er löst das Problem, die beiden Leistungen zu vereinigen, indem er sie auf zwei ge-
sonderte, miteinander verbundene Bestandteile – Systeme – verteilt. Das ist aber ganz die
gleiche Art, wie nach meiner oben erwähnten Annahme unser seelischer Apparat die Wahr-
nehmungsfunktion erledigt. Die reizaufnehmende Schicht – das System W-Bw – bildet keine
Dauerspuren, die Grundlagen der Erinnerung kommen in anderen, anstoßenden Systemen
zustande.
5 | Lösch: Transdifferenz, S. 30.
6 | De Quincey, Thomas: The palimpsest of the human brain [1845]. In: Madden, Patrick
(Hg.): Quotidiana. Lincoln/London: University of Nebraska Press 2010, http://essays.
quotidiana.org/dequincey/palimpsest_of_the_hu man_brain/ (zuletzt eingesehen am
3.5.2015).
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur