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Christoph
Leitgeb56
Über hundert Jahre nach Formierung der Psychoanalyse unternimmt Uljana
Wolf als Schriftstellerin den Versuch, dieses institutionalisierte Gedächtnis an
Anna O. aufzubrechen. In ihrem Method Acting mit Anna O. nimmt sie den zer-
streuten Sinn der ursprünglichen Palimpseste Anna O.s dichterisch gegen die
Interpretation der Ärzte auf und bringt eine neue, fiktiv und strategisch formulier-
te »Erinnerung« in Stellung, ganz im Sinne der Transdifferenz.
wieder flufft der doktor kissen auf, er zeigt mir einen blumenstrauß, so kommt es endlich
raus: ich habe den floralen tunnelblick. je dis: une fleur! je dis: une fleur! was grand mal-
heur. augen sehen zimmer, taftvorhänge, aufstau bürgerlicher fluten, bloß sträuße krieg ich
nicht in blick, nur einzeln schwebende blüten. später verstand das kurt schwitters, der doktor
nichts gewittert. sie: gesichtsfeldeinengung! ich: annablumetalent! und verlassen das zim-
mer, aufgelöst von meiner vergesslichkeit. dabei geh ich nur in die lehre. dass man, um ein
bild zu machen, von gebinden absehen muss.24
4. Die Einstellung der Interpreten zum Palimpsest-Charakter der
Fallgeschichte äußert sich in einer Metaphorik des Fadenknüpfens,
Knotens und Webens. Diese komplementäre Metaphorik
antwortet auf bestimmte Schwierigkeiten beim Erschließen von
Gedächtnisinhalten, wenn man eine Palimpseststruktur des
Gedächtnisses unterstellt. Auch in dieser Metaphorik stellt
sich für den Übergang zwischen individueller Erinnerung und
institutionellem Gedächtnis als Problem: Welche inhärente Kraft
wird dem jeweils »Unbewussten« zugesprochen, und wie wird die
Möglichkeit einer Vermittlung ins »Bewusste« gedacht?
Nicht zufällig verwendet Wolfs »method acting« mit einem Bezug auch auf die
palimpsestische (Zitat-)Struktur des eigenen Texts die Metapher des »Gebindes«.
»Der folgende Beitrag versucht, einige Fäden aus dem komplexen Theoriegewebe
des Transdifferenzkonzeptes herauszulösen, zu überprüfen und weiter zu spin-
nen.«25 Wie bei Christian Huck begleitet auch innerhalb der kulturwissenschaft-
lichen Metasprache öfter eine Metaphorik des Webens, Knüpfens und labyrinthi-
schen (Ariadne-)Fadenziehens26 das kulturwissenschaftliche Sprechen von der
Transdifferenz:
Aus diesen Überlegungen folgt, dass die geläufige Vorstellung, ein kulturelles System sei
ein Selbstverständigungszusammenhang einer Gruppe oder einer Gesellschaft[,] insofern
irreführend ist, als sie eine gleichsam monologische Qualität suggeriert. Im Zeichen von
24 | Wolf: Annalog von den Blumen, S. 46. Noch radikaler als bei Wolf ist das Problem von
Individualisierung und Entindividualisierung am Beispiel Anna O.s gestaltet in dem inter-
medialen Kunstprojekt Talking Cure, vgl. www.noahwf.com/talkingcure/ (zuletzt eingesehen
am 3.5.2015).
25 | Huck, Christian: Kultur – Transdifferenz – Gemeinschaft. In: Allolio-Näcke/Kalscheuer/
Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken, S. 53-67, hier S. 53.
26 | In der Psychoanalyse auch die eines des Bergbaus und Stollentreibens …
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur