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Palimpsest über Anna O. 65
einmal am Sprachduktus jenes Textes verdeutlichen, der Transdifferenz allgemein
skizziert. Als Kommentar auf das Palimpsest um Anna O. projiziert wirkt er nicht
zufällig zynisch, gerade durch seine Abstraktion von der Frage nach der Macht der
jeweiligen Akteurinnen und Akteure:
Die ursprünglich eingeschriebene binäre Differenz zwischen Selbst und Anderem beginnt zu
oszillieren. Das Aufeinandertreffen des binären Konstrukts des Selbst als Präsenz und des
Anderen als Absenz, das von der einen Kultur erstellt wurde, mit dem entsprechenden Konst-
rukt der anderen im Raum zwischen den Kulturen resultiert in einer Gegenüberstellung zweier
Präsenzen und Absenzen. Die Selbst- und Fremdrepräsentationen verlieren dabei ihren gesi-
cherten Status (im Sinne von Authentizität) und müssen im Hinblick auf eine doppelte Alteri-
tätserfahrung (dem Eigenen und dem Fremden gegenüber) neu verhandelt werden. In diesem
Aushandlungsprozess erweist sich einerseits das Andere als nicht total nostrifizierbar und
andererseits das Eigene als gezeichnet durch die »Spur des Anderen« (Lévinas 1998).59
6. Nach dem Abschluss des psychoanalytischen Falls um Anna O.
stellt sich sowohl für Bertha Pappenheims Erzählungen als auch
für Sigmund Freuds kulturtheoretische Texte die Frage nach
ihrer palimpsestischen Struktur: Fokus einer wiederholenden
Einschreibung ist in beiden Fällen die Frage nach der Vaterfigur,
der eigenen jüdischen Herkunft und der Assimilation.
Über die Metapher des Palimpsests sind kulturwissenschaftliche Theorie der
Transdifferenz und psychoanalytische Theorie aufeinander bezogen. Das setzt
zwar keinen Zusammenhang der beiden Theorien in ihren Gegenständen voraus,
legt ihn aber nahe: Eine Hypothese zu einem theoretischen Zusammenhang eines
individuellen und eines kollektiven »Unbewussten« könnte behaupten, dass auch
das Freud’sche Unbewusste, wie es Lacan formuliert, »die Struktur einer Sprache«
hat, also kulturell bestimmt ist. Oder sie könnte sich darauf berufen, dass das kol-
lektive Gedächtnis persönliche Erinnerung institutionalisiert und speichert. Als
ein gemeinsames Phänomen der Einschreibung in das persönliche Gedächtnis
und zugleich der kulturellen Institutionalisierung entwirft Freud auch den »Wie-
derholungszwang«. An dieses Konzept der Psychoanalyse erinnert, wie eine Kul-
turtheorie der Transdifferenz die Wichtigkeit des Palimpsests als Gedächtnisme-
tapher begründet:
Ich schlage vor, die Metapher des Palimpsests zu dynamisieren und die Reproduktion von
Sinnsystemen als palimpsestischen Prozess zu bezeichnen: Im Reproduktionszyklus muss
das Ausgeschlossene ein ums andere Mal wiedereingeschrieben und überschrieben werden,
um sein destabilisierendes Potential zu neutralisieren. Man kann nun argumentieren, dass
dieses iterative Moment Transdifferenz produziert, da es Weltkomplexität wieder einführt,
indem es notwendigerweise auf andere Möglichkeiten verweist, um die getroffene Selektion
zu validieren. Und damit wird die selektierte Differenz in ein Spannungsverhältnis zu alter-
nativen Differenzmarkierungen gestellt und destabilisiert. In einem gewissen Grad repro-
duzieren Sinnsysteme (oder Kulturen) demnach in ihrem Prozessieren Momente der Trans-
differenz. Daraus folgt, dass Transdifferenz niemals völlig kontrolliert werden kann und dass
59 | Lösch: Transdifferenz, S. 35.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur