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Christoph
Leitgeb68
Der Text aber, wie er uns heute vorliegt, erzählt uns genug auch über seine eigenen Schick-
sale. Zwei einander entgegengesetzte Behandlungen haben ihre Spuren an ihm zurückgelas-
sen. Einerseits haben sich Bearbeitungen seiner bemächtigt, die ihn im Sinne ihrer gehei-
men Absichten verfälscht, verstümmelt und erweitert, bis in sein Gegenteil verkehrt haben,
anderseits hat eine schonungsvolle Pietät über ihm gewaltet, die alles erhalten wollte, wie
sie es vorfand, gleichgültig, ob es zusammenstimmte oder sich selbst aufhob. So sind fast in
allen Teilen auffällige Lücken, störende Wiederholungen, greifbare Widersprüche zustande
gekommen, Anzeichen, die uns Dinge verraten, deren Mitteilung nicht beabsichtigt war. Es
ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht
in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. Man möchte dem Wor-
te »Entstellung« den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heute kei-
nen Gebrauch davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verändern,
sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben. Somit dürfen wir in
vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleugnete doch
irgendwo versteckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem Zusammenhang gerissen.
Es wird nur nicht immer leicht sein, es zu erkennen.70
In seinem Vorwort zu der hebräischen Ausgabe von Totem und Tabu hatte Freud
1930 darüber nachgedacht, was an ihm noch jüdisch sei: »Noch sehr viel, wahr-
scheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in
klare Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht
zugänglich sein.«71 Pappenheim hätte einer solchen Antwort misstraut, die sich
nur über den Umweg eines kulturell Unbewussten zum Judentum bekannte. Die
Kultur der Väter war für sie nicht nur eine Einstellung zu den Möglichkeiten in
einem transdifferenten Raum, sondern Verpflichtung, das Bekenntnis zu einer aus
der palimpsestischen Vieldeutigkeit herauszulösenden Tradition.72
Seitdem der Einfluß des einzigen jüdischen Erziehers und Realpädagogen, Moses, in seinen
lapidaren Geboten im Leben der Juden an Gesetzeskraft verlor, zerfloß die sittliche Atmo-
sphäre der Juden in nebelhafte Gebilde. Es gibt keine Erziehung, es gibt keine Erzieher mehr.
Jede Unart, jede Ungezogenheit, jede Unsitte, jeder Unsinn, jede Hemmungslosigkeit, jede
Geschmacklosigkeit, jede Taktlosigkeit, jede Tatenlosigkeit, jede Gesinnungslosigkeit wer-
den historisch und psychologisch erklärt. Die Erklärung wird zur Entschuldigung ausgebaut.
Tradition wird nicht als Verpflichtung gezeigt, sondern feige und bequem als Hintergrund von
Kulissen aufgestellt.73
70 | Freud: Der Mann Moses, S. 493.
71 | Zit. n. Bernstein, Richard J.: Freud und das Vermächtnis des Moses. Wien: Philo 2003,
S. 13.
72 | Sie misstraute diesbezüglich sogar dem Begründer des Zionismus: »Herzl war Journa-
list, der den Wienern meist ihren gerngelesenen Sonntagsbraten in der ›Neuen freien Presse‹
lieferte. Für die Kreise, denen ich entstamme, war er das, was man damals noch nicht mit
dem Wort ›Assimilant‹ bezeichnete aber ablehnte.« Pappenheim, Bertha: Die jüdische Frau
[1934]. In: dies.: Literarische und publizistische Texte, S. 87-99, hier S. 94 (s. auch http://
gutenberg.spiegel.de/buch/zeitungsartikel-800/15 (zuletzt eingesehen am 3.5.2015).
73 | Ebd., S. 97f.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur