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Ruth
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das Ende einer harmonischen, weil von einer auktorialen Erzählerfigur vermittel-
ten Erzählung. So gesehen ist Das tägliche Leben nicht versteckt subversiv, sondern
offen kritisch, und dass das von der Leserschaft damals erkannt wurde, wird beson-
ders durch die Kritik der ultrakonservativen Fraktion der katholischen Kirche auf
der Höhe des »Literaturstreits« deutlich.17 Anders als bei ihrer Selbstinszenierung
am Schreibtisch, war Marie von Ebner-Eschenbach an diesem Streit an sich nicht
aktiv beteiligt, sondern gelangte 1903 zwischen die Fronten: Die ultramontane
Fraktion der katholischen Kirche wurde durch die Inklusion aller Werke Ebner-
Eschenbachs in den Literarischen Ratgeber (1902) der Deutschen Literatur-Gesell-
schaft auf sie aufmerksam; es handelte sich dabei um eine Art Katalog lesenswerter
Schriftstellerinnen und Schriftsteller, deren Bücher von den liberal-katholischen
Herausgebern interessierten Katholiken und Katholikinnen als Weihnachtsge-
schenke empfohlen wurden. Der Katalog löste die schärfste Kritik aus: Einige der
darin vertretenen Autorinnen und Autoren, unter diesen Ebner-Eschenbach, wur-
den von der ultramontanen Seite als antiklerikal, antiepiskopal und unmoralisch
verteufelt und ihr Werk für katholische Leihbibliotheken als zu gefährlich erklärt.
Diese Invektiven wurden dabei in der Öffentlichkeit geführt, erst durch Hedwig
Dransfeld in den Borromäus Blättern18 und kompromisslos durch Hermann Herz
im Nachfolgeorgan dieser Blätter, der Bücherwelt.19
Bereits in Aus Franzensbad waren die Themen diskutiert worden, die Drans-
feld und andere zu Beginn des 20. Jahrhunderts so aufregten. Dort werden die
mangelnden Bildungsmöglichkeiten für Frauen und die Macht des Kanons, zu
dem Frauen weder aktiv (durch Schreiben) noch passiv (durch Lesen) Zugang hat-
ten, sogar noch ausdrücklicher angesprochen als in Das tägliche Leben.20 Zu einem
Zeitpunkt, als Intellektuelle im Anschluss an die 1848er Revolution die Frauen als
gleichberechtigter denn je zuvor ansahen, sah die Wirklichkeit für das Gros der
bürgerlichen Frauen im habsburgischen Reich völlig anders aus. Soweit der Kanon
Identität und Legitimation und damit Autorität stiftete, waren Frauen davon formal
17 | Klostermaier, Doris M: »Not Recommended for Catholic Libraries«: Marie von Ebner-
Eschenbach and the Turn-of-the-Century Catholic Revival Movement. In: German Life and
Letters 53 (2000), 2, S. 162-177, hier S. 170-175.
18 | Dransfeld, Hedwig: »Marie von Ebner-Eschenbach«. In: Borromäus Blätter 5 (1905),
S. 101-108. Der Borromäusverein war die Dachorganisation für katholische Büchereiarbeit
in Deutschland.
19 | Herz, Hermann: »Marie von Ebner-Eschenbach«. In: Die Bücherwelt 8 (1911), S. 147-
151.
20 | Ich beziehe mich hier auf Winkos Definition von Kanon: »Mit K[anon] wird gewöhnlich
ein Korpus literar[ischer] Texte bezeichnet, die eine Trägergruppe, z.B. eine ganze Kultur oder
eine subkulturelle Gruppierung, für wertvoll hält, autorisiert und an dessen Überlieferung sie
interessiert ist […], daneben aber auch ein Korpus von Interpretationen, in dem festgelegt
wird, welche Bedeutungen und Wertvorstellungen mit den kanonisierten Texten verbunden
werden […]. […] K[anon]es erfüllen verschiedene Funktionen für ihre Trägergruppe: Sie stif-
ten Identität […]; sie legitimieren die Gruppe und grenzen sie gegen andere ab; sie geben
Handlungsorientierungen, indem sie ästhetische und moralische Normen wie auch Verhal-
tensregeln kodieren; sie sichern Kommunikation über gemeinsame Gegenstände.« Winko,
Simone: Art. »Kanon, literarischer«. In: Nünning (Hg.): Metzler Lexikon der Literatur- und Kul-
turtheorie, S. 300-301, hier S. 300.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Title
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Subtitle
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Authors
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Size
- 15.4 x 23.9 cm
- Pages
- 454
- Keywords
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Category
- Kunst und Kultur